Work In Progress

// Autoren(theater)texte I von Sibylle Berg, Doğan Akhanlı und Martina Clavadetscher //

Als die Corona-Pandemie die Türen der Theater schloss und damit Ensembles, Theatermacher:innen und Autor:innen trennte, hat das Deutsche Theater Berlin einen Weg gefunden, „in einsamen Monaten an gemeinsamen Projekten zu arbeiten“. Mit einer Förderung der Heinz und Heide Dürr Stiftung wurden die zehn Autor:innen der Autoren(theater)tage 2020 mit Kurzstücken beauftragt. Die Vielfalt der Formen reicht von Monolog über Album, Sprechchor, bis hin zu Protokollen, dialogischen Szenen und kurzen Geschichten. Das Ensemble des Deutschen Theaters präsentierte die zehn Kurztexte in drei Blöcken vom 2.-4. Oktober in Form szenischer Lesungen.

Die Kurzstücke wollen als „literarische Keimlinge“ verstanden werden – mit dem Potential, zu längeren Stücken ausgearbeitet zu werden. Den Charakter des „work in progress“ greift die Wahl der Spielstätten auf. Das Publikum wechselt für jeden Text in einen neuen Raum. So beginnt der erste Block mit einem Text von Sibylle Berg in der Box des Deutschen Theaters, setzt sich mit einem Monolog von Doğan Akhanlı in einem Materiallager fort und endet mit einem Sprechchor von Martina Clavadetscher auf der Probebühne.

In Sibylle Bergs Übergabeprotokolle kommen vier Figuren zu Wort, deren Geschichten scheinbar miteinander verknüpft sind – und zwar durch das Erscheinen eines Tieres. Diese „Art Nager“ wird mit knapper Präzision als „kleines braunes Pelztier mit wachem Blick und zarten Händen“ beschrieben und zeigt durchaus menschliche Züge, etwa wenn es am Tisch von einem Teller essen und auch in einem Bett schlafen möchte. An Kafkas Odradek und zugleich den Märchenprinzen in Gestalt einer Kröte erinnernd, bleibt das Tier rätselhaft und schwer zu greifen. Seine Präsenz ist flüchtig, aber umso eindringlicher, denn es konfrontiert die Menschen mit existentiellen Fragen und radikalen Impulsen.
Die eingespielten Stimmen von Felix Goeser, Katrin Klein, Karla Lutz und Anja Schneider erzählen auf berührende Weise die Begegnungen der vier Figuren mit dem Tier, während Paul Grill, vollständig unter einer Decke verborgen, sich durch den schummerig beleuchteten Bühnenraum bewegt. Er rollt, kriecht robbt, legt ein Kartenspiel, verwüstet einen Schreibtisch. Dabei bleibt er unter der groben Wolldecke gestalt- und gesichtslos. Dieser Regieeinfall von Bernd Isele ist zugleich gewöhnungsbedürftig und wenig originell. Besteht nicht der Reiz des Textes darin, dass sein stärkster Protagonist unsichtbar bleibt? Dieses mächtige Tier, das alle Figuren an einen Scheideweg zwischen Leben und Tod bringt, wird fast nicht beschrieben, tritt flüchtig in Erscheinung und kaum in Aktion. So betrügt das anthropomorphe Deckenmonster auf der Bühne das Publikum um diese kraftvolle Abwesenheit.

Paul Grill windet sich ein letztes Mal auf dem Boden und bleibt um die Beine einer Zuschauerin gekrümmt liegen. Etwas betreten verlässt das Publikum die Box und zieht über den Theaterhof weiter in eine Lagerhalle.

Hier hat Caner Sunar sich an einem Schreibtisch eingerichtet. Um ihn türmen sich Papierstapel, Aktenordner und Bücher. Hinter ihm verweisen Fotos, Orts- und Personennamen, Jahreszahlen und Pfeile auf personelle Verquickungen rund um den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem. Caner Sunar trägt den Monolog Die vierte Figur von Doğan Akhanlı vor, die biografische Spurensuche eines Regieassistenten. Während dieser im Corona-Lockdown an den heimischen Schreibtisch gefesselt ist, führen ihn seine Recherchen für eine Neuinszenierung von Peter Weiss' Stücke Ermittlung gedanklich nach Jerusalem, Buenos Aires und Istanbul.
Auch in diesem Text tritt unvermittelt „etwas“ zutage, das entfernteste Biografien miteinander verknüpft. Der Regieassistent ahnt: „Wenn ich nun sagen würde, dass es zwischen der Entführung von Adolf Eichmann und meinem Onkel eine Verbindung gibt, glaubt das keiner.“ Plötzlich öffnet sich die häuslichen Isolation und die Familiengeschichte des jungen Mannes verbindet sich mit der „Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Einfühlsam transportiert Caner Sunar die Betroffenheit, das Erstaunen, die Euphorie und Trauer, die sich für den Protagonisten an seiner Entdeckung entfalten – bis die Weltgeschichte den intimen Raum des Arbeitszimmers zu sprengen droht.

Einen deutlichen Kontrapunkt setzt der letzte Text dieses Blocks, Der Glassarg ist doch auch bloß ein öffentliches Bett von Martina Clavadetscher. Das Publikum zieht in die Probebühne weiter und formiert sich – angeleitet über Kopfhörer – zum Trauermarsch. In einem gläsernen Sarg – die Bühne trennt eine transparente Wand vom Zuschauerraum – findet es fünf Schneewittchen in knallroten Kleidern vor. Sie rechnen in einem vielstimmigen Wortschwall mit den klischeehaften Rollenbildern, denen sie sich als Frauen – und Schauspieler:innen – ausgesetzt fühlen, ab.

Lina Bookhagen, Helen Fröhlich, Frida Lang, Helena Sophia Lengers und Leni von der Waydbrink feuern mit Tempo und Temperament ihren Hohn, ihre Wut und ihren Stolz gegen die gläserne Wand des Sargs – und per Videoprojektion in den öffentlichen Raum. Das Stakkato ihres atemlosen Textes fördert schließlich den „giftigen Apfelgrütz“, an dem sie zu ersticken drohten, zutage. Statt auf den rettenden Prinzen zu warten, der sie doch nur in das Gefängnis seines Reichtums und seiner Macht würde stecken wollen, befreien sich die mündigen Prinzessinnen lieber selbst. Gut gelaunt hüpfen sie triumphierend aus dem Sarg und jubeln in einem Popsong: „What's going on?“

Diese rasante und fröhliche Performance, die nicht nur Gener-Klischees, sondern auch das Gendern als Allzweckwaffe auf die Schippe nimmt, kommt beim Publikum gut an und die fünf elanvollen Darstellerinnen dürfen sich über langanhaltenden Applaus freuen.

Alle zehn Autoren(theater)texte sowie Auszüge der drei Uraufführungen der Autoren(theater)tage 2020 sind in einer begleitenden Publikation abgedruckt.

Magdalena Sporkmann

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