They don‘t give a fuck

// Und sicher ist mir die Welt verschwunden von Sibylle Berg //

Stille – bis auf das Fauchen der Beatmungsgeräte. Schmerzen in der Hand, aber die Hand, die ist gar nicht mehr da; abgesprengt beim Amoklauf. Der Amoklauf war ihr Versuch, Rache zu nehmen, an dieser patriarchalen und neoliberalen Gesellschaft. Es ist die Rache einer Frau, die in dieser Gesellschaft unsichtbar geworden ist, weil sie sich weder auf dem Markt behaupten noch einen Mann an sich binden konnte. Verstümmelt hat sie den Amoklauf überlebt und blickt nun – regloses Objekt intensivmedizinischer Bemühungen – auf ihr Leben zurück. Aber wie lange noch? Bis eine KI errechnet, dass es sich nicht lohnt, eine Frau, die zu alt ist, um noch Kinder auszutragen, zu arm, um hohe Steuern zu zahlen und zu krank, um als Niedringlohnkraft verbraucht zu werden, am Leben zu erhalten.

Und sicher ist mir die Welt verschwunden ist Sibylle Bergs vierter und letzter Text einer Saga über weibliche Biografien in unserer Gegenwart, die sie für das Maxim Gorki Theater geschrieben hat. Das Stück kam am 24. Oktober 2020 unter Regie von Sebastian Nübling zur Uraufführung.

Wieder sind es vier Sprecher:innen, die einem weiblichen Ich – oder Minna oder Gemma oder Lina – ihre Stimmen leihen: Anastasia Gubareva, Svenja Liesau, Vidina Popov und Katja Riemann. Mal wütend, mal verächtlich, mal trauernd und mit schwärzestem Humor erzählten sie einzeln und im Chor von den Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Erkenntnissen, die dieses eine Frauenleben ausmach(t)en. Diese vermeintlich höchst individuellen Erlebnisse spiegeln jedoch durchaus kollektive und spezifisch weibliche Erfahrungen in einer männlich dominierten Leistungsgesellschaft wider. Die überspitzte Einsicht lautet: Eine Frau ist zum Vögeln und Kinderkriegen da. Weil sie Mutter ist, kann sie unmöglich auch Karriere machen. Wenn sie altert, will irgendwann keiner mehr mit ihr Sex haben. Dann kann sie sich nur noch behaupten, wenn sie Geld, ergo Macht, hat, aber für eine Karriere hatte sie als Mutter ja keine Zeit. Der eigene Nachwuchs verschmäht sie als unemanzipiert, altmodisch und spießig. Und Liebe gibt es nur im Film. Also bleibt ihr irgendwann nichts anderes übrig, als einsam in einer Sozialwohnung auf den Tod zu warten. Und wenn sie krank wird, entscheiden wiederum marktwirtschaftliche Überlegungen, ob sich die Behandlung lohnt oder ob nicht eher der Portfoliomanager im Nachbarbett gerettet werden sollte. Sie hat Angst. Sie ist traurig und wütend. Sie klagt an und macht auch vor sich selbst nicht Halt: Als junge Frau hatte sie nichts Geringeres vor, als die Welt zu retten, aber dann ist zwischen Lohnarbeit und Familiengründung der Tatendrang irgendwie im Shoppen und Serien-gucken versandet, muss sie sich heute eingestehen.

Sebastian Nübling übertrifft in dieser Inszenierung die vorherigen drei an Intensität und Originalität. Wieder steht der gewitzte, elegante, brutal ehrliche und grell leuchtende Text Sibylle Bergs im Fokus. Die Sprecher:innen bringen ihn kraftvoll zum klingen, beherrschen zugleich alle leisen Töne und begeben sich zeitweise in einen amüsanten Dialog mit diesem Text; etwa wenn Anastasia Gubareva sich fragt, was „Sibylle“ wohl mit diesem „Beispiel“ meint: „Und jetzt kommt es, wortwörtlich: ...“
Wieder erhält der Text auch ein musikalisches Echo (Lars Wittershagen). Doch die Sprecher:innen singen nicht nur hervorragend, sondern bearbeiten auch jeweils einen Synthesizer, mit dem sie sphärische, wummernde und poppige Klänge erzeugen. Die auf rollbare Ständer montierten Synthesizer und Mikrophone fungieren zugleich als Requisit (Bühne: Magda Willi) und stellen die Beatmungsgeräte dar, an die sich die Sprecher:innen klammern, mit dem unbedingten Willen zu überleben, so beschissen dieses Leben für sie auch ist. Outfits (Ursula Leuenberger) mit Leopardenprint, die sich unter den Bademänteln der „Patient:innen“ verbergen, zeugen von dieser Lebenslust, die sie bisher nur im Nachstellen von „Vergnügen“ erlebt haben.

Und sicher ist mir die Welt verschwunden dokumentiert eine kraftvolle Auflehnung gegen die Zumutungen dieses Lebens. Die reglos an eine Maschine gekettete Existenz sucht durch Sprachgewalt mit einem System abzurechnen, das ihr Unrecht getan hat und wird darin lebendig.

Magdalena Sporkmann

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