Die schweren Schleppen der Geschichte

// Gespenster von Henrik Ibsen //

In einem düsteren Labyrinth aus Raum und Zeit präsentiert Mateja Koležnik Henrik Ibsens Gespenster am Berliner Ensemble – eine Familie, die als ,Widergänger' der Verstorbenen ein unausweichliches Schicksal erfüllt. Premiere war am 8. Oktober 2020.

Das kalte Licht der grellen LED-Fackeln vermag kaum, den Bühnenraum zu erhellen. Raimund Orfeo Voigt und Leonie Wolf haben ein faszinierendes Labyrinth aus drei beweglichen Raum-Elementen geschaffen. Die anthrazitfarbenen Wände und Türen der sich immer wieder neu zusammensetzenden Zimmer schlucken jegliches Licht. Osvald Alving, der aus Paris nach Norwegen in sein Elternhaus zurückgekehrt ist, jammert: „Dieses ewige Regenwetter. Monatelang. Und nie ein Sonnenstrahl. Wenn ich zuhause war, hat noch nie die Sonne geschienen.“ Die fehlende Sonne ist als Symbol zu verstehen: In Osvalds Elternhaus treten dunkle Geheimnisse nicht ans Licht und es fehlt an jeglicher Lebensfreude.

Helene Alving, Osvalds Mutter, herrscht über dieses Trauerhaus, aus dem die Gespenster – die Toten und die veralteten Überzeugungen – nicht zu vertreiben sind. So ist der verstorbene Kammerherr Alving, Osvalds Vater und Helenes Mann, allseits präsent. Seine Promiskuität hat nicht nur eine Syphilis-Infektion, die sich ebenfalls auf Frau und Sohn übertrug, zur Folge gehabt, sondern auch eine uneheliche Tochter mit dem Dienstmädchen. Helene Alving, von bürgerlichen Moralvorstellungen geprägt, brachte die Dienstmagd mit Geld zum Schweigen und ließ sie den Tischler Engstrand heiraten, welcher das ungeborene Kind als seines annahm. Ihren Sohn Osvald schickte Helene ins Internat, damit er möglichst unbeeinträchtigt vom väterlichen Sittenverfall aufwachsen möge. Doch es zeigt sich, dass ihr Schweigen ihre Schuld wird: Als Osvald nach dem Tod des Vaters in sein Elternhaus zurückkehrt, ist er nicht nur schwer gezeichnet von der Syphilis, mit der er bereits im Mutterleib infiziert wurde, sondern verliebt sich auch in Regine, seine vertuschte Halbschwester, die mittlerweile wie einst ihre Mutter als Dienstmädchen im Hause Alving arbeitet.

Das komplexe Gefüge aus Symbolen und Doppelgänger:innen, das Ibsen geschaffen hat, findet in dem Bühnenbild mit seinen Verschachtelungen, Ähnlichkeiten und Varianten ein großartiges Echo. Auch die durchgängig schwarzen Kostüme (Ana Savić-Gecan) eröffnen durch ihre Details und Wandelbarkeit einen großen Deutungsspielraum. Der Ballast der Geschichte hängt an den Frauen als schwere Schleppen und lange Zöpfe; ihre gelösten Haare, aber – blonde Wallemähnen bis zum Knie – wollen verführen und Stärke demonstrieren. Liebesszenen werden einzig dadurch angezeigt, dass die Figuren nur mehr mit Unterwäsche – vielteilig und hoch geschlossen – bekleidet sind und sich, ein jeder allein in getrennten Räumen, winden. Selten sind die Figuren, die miteinander interagieren, im selben Raum – Sinnbild der Einsamkeit, zu der sie Ibsen verdammt.

Paul Zichner spielt Osvald Alving als verhuschten und depressiven jungen Mann, der sich aufgegeben und zu „lebendig tot“ erklärt hat – auch er bereits ein Gespenst. Die neurologischen Schädigungen infolge der Syphilis-Infektion Osvalds übersetzt Zichner in eine zuckend-verkrampfte Körperhaltung und dementes Lallen.

Corinna Kirchhoff in der Rolle Helene Alvings gelingt es, die Vielschichtigkeit dieser Figur zu zeigen. Helene hat nämlich in ihren neunzehn frustrierenden Ehejahren eine enorme innere Entwicklung durchgemacht. Durch die Lektüre aufgeklärter und politisch liberal gesinnter Bücher hat sie sich selbst aus „alten, abgestorbenen Überzeugungen“ befreit. Sie praktiziert nun radikale Ehrlichkeit. Die Tragik dieser Figur aber liegt darin, dass ihre Einsicht zu spät kommt. Sie kann ihren Sohn nicht vor dem Inzest bewahren, kann ihn nicht von der Syphilis heilen und auch seiner Resignation nichts mehr entgegensetzen. Die Kräfte, die in Helene streiten, die emanzipierte Frau und zugleich verzweifelte Mutter, spielt Corinna Kirchhoff empathisch, nuanciert und überzeugend.

Veit Schubert ist sehr gut in der Rolle Pastor Manders', der als Vertrauter, Freund und auch geistlicher Sittenwächter für Helene eine große Rolle spielt. Ihre Offenheit überfordert ihn, nur kurz wankt er innerlich, ob er ihren aufgeklärten Überzeugungen folgen sollte. Schubert fängt die Naivität und den Opportunismus dieses großen Verdrängers fabelhaft ein.

So kunstvoll die Inszenierung von Mateja Koležnik ist, so künstlich wirkt sie auch; und das liegt zu einem guten Teil daran, dass der strenge Ablauf von Ibsens Drama es gewissermaßen berechenbar macht; und auch daran, dass der dem Text immanente Symbolgehalt zuweilen überfrachtet wirkt. Die Übersetzung von Angelika Gundlach klingt schlicht und zeitlos, doch die Figuren wirken gestrig, gefangen in einem Kampf, der heute so gut wie ausgefochten ist. Alvings Haus ist auch eine Zeitkapsel, in der all diese Figuren – lebende wie tote – als Gespenster ewig existieren. Umso überraschender die Modernität mancher Botschaften – etwa wenn Osvald seiner Mutter unterstellt, lieber würde sie ein Kind allein lassen, als dass es mit zwei Vätern und einer Mutter aufwachse. Hier zeigt, wie Ibsen seiner Zeit voraus war.

Einiges an Lebendigkeit verschenkt Mateja Koležnik jedoch auch im dritten Akt, als drei dramatische Ereignisse dafür eigentlich genug Stoff bieten: Osvald fleht Helene an, ihm das Leben zu nehmen; das Kinderheim, das Helene aus dem Nachlass ihres Mannes finanziert hat, brennt ab und Regine bricht – bestürzt über die Offenbarung des Inzestes – in eine ungewisse Zukunft auf. Allerdings war das Spiel aller Darsteller:innen in den beiden vorhergehenden Akten schon so pathetisch, dass eine Steigerung nun nicht mehr möglich scheint. So verlischt das tragische Ende des Stücks peu à peu mit den Fackeln, bis es gänzlich dunkel ist.

Magdalena Sporkmann

Foto: Matthias Horn

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