Zeit der Märchen

// Zdeněk Adamec von Peter Handke //

„Weiträumige Szene, unbestimmbarer Natur (…) Zeit: jetzt oder sonstwann.“ – So unbestimmt Ort und Zeit in Peter Handkes neuem Theatertext sind, so ungreifbar, ja abwesend, ist dessen Held: Zdeněk Adamec. Jossi Wieler hat diese „Szene“ im Deutschen Theater Berlin inszeniert. Die Deutsche Erstaufführung fand am 21. Oktober 2020 statt.

Sechs Personen – Musiker:innen – in einem Raum, „möglicherweise ein ehemaliges Klosterrefektorium“: schlichte Holzbänke und -tische, die Handke-obliagtorische Jukebox, an den Wänden Madonnenbilder (Bühne: Jens Kilian). Die drei Frauen und drei Männer scheinen auf etwas zu warten, sind nur vorübergehend hier.

Das Gespräch kommt auf Zdeněk Adamec, der sich 18-jährig am 6. März 2003 auf der Treppe des Prager Nationalmuseums verbrannte, aus Protest gegen die Welt. Jede der sechs Personen hat vermeintliches Wissen über Zdeněk Adamec beizutragen. Bald versuchen sie einander gegenseitig mit ihren Insiderinformationen zu übertrumpfen, die sich nicht selten widersprechen. Da ist die Rede von Zdeněk Adamec als lebensfrohem Naturburschen und Taschenspieler, aber auch als einsames Kind und rebellischer Außenseiter. Was alle eint, ist das Rätsel um das Tatmotiv. Es wird deutlich: Die Erklärungen, die die Medien gegeben haben, sind vereinfacht. Mit jeder neuen Geschichte wird der Zusammenhang, der durch die Berichterstattung hergestellt wurde, fragiler.

Eine der Figuren ruft dafür das Bild eines Stoffes auf, der kleine Risse bekommt und umso weiter aufreißt, je mehr Risse geflickt werden. Jede neue Geschichte, die im Laufe dieses Abends über Zdeněk Adamec zutage tritt zeigt: Leben und Fühlen eines Individuums widersetzen sich möglicherweise der Geschichtsschreibung. Dennoch entsteht durch Handkes polyphone Erzählung über Zdeněk Adamec an diesem Nicht-Ort zu dieser Nicht-Zeit ein Zusammenhang. Die Zusammenkunft der Sprecher:innen und des Publikums für die Spanne der der Erzählung schafft den Zusammenhang.

Jossi Wieler ermöglicht diese Zusammenkunft durch seine atmosphärisch dichte Inszenierung, in deren Zentrum Handkes poetischer Text steht. Das Spiel der Darsteller:innen ist minimalistisch und fast künstlich verlangsamt. Umso lebhafter ist ihr sprachlicher Umgang mit dem Text. Deutlich lassen sich verschiedene Temperamente und Charaktere unterscheiden: eine charmant überdrehte und übertrieben gut gelaunte Dame (Regine Zimmermann), ein älterer Herr mit etwas holprigem Humor (Bernd Moss), eine schwärmerische junge Frau, die sich in regelrechte Trauer um Zdeněk Adamec hineinsteigert (Linn Reusse). Ab und zu schaltet sich die Jukebox als siebente Stimme ein.

Der tiefe Raum, in dem die Figuren wie in einem Guckkasten aufgestellt sind, wirkt durch seine Bemalung und Ausleuchtung auf der ansonsten dunklen Bühne abgeschlossen. Allmählich aber öffnet er sich. So, wie Kausalität und Faktensicherheit der Geschichte von Zdeněk Adamec rissig werden, tun sich auch quer durch den Raum zwei Spalten auf und die drei Raumteile driften immer weiter auseinander. Gleichzeitig öffnet sich der Raum metaphorisch durch die Bilder, die die Sprecher:innen beschreiben: eine besonders große Schneeflocke – ein „Schneeflock“ – trudelt herab, Mutter und Kind sammeln Heidelbeeren im Wald. Der Blick geht erzählerisch auf den Vorplatz des Raums: Spielen dort Erwachsene Verstecken? Ihr „Scheingehabe“ und „Gefuchtel im Leeren“ deutet auf ein Spiel hin. Spätestens hier zeigt sich: Auch die Welt außerhalb dieses Raums ist eine Märchenwelt und Handke bettet die Erzählung über Zdeněk Adamec in eine poetische Wirklichkeit ein.

Aber die Geschichten, die die Sprecher:innen einander über Zdeněk Adamec erzählen, sind sie wahr oder erfunden? – Ungeklärt. Unwichtig. Sie kommen in ihrer fragenden Vieldeutigkeit der Wahrheit vielleicht näher als die Vereinfachungen der Medien und der Geschichtsschreibung.

Magdalena Sporkmann

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