Die Idylle ist eine Lüge

„Ich gehöre die ganze Nacht Ihnen, wenn ich danach das Bild zerstören darf“, sagt Judith zu dem Käufer, der ein Gemälde erwerben will, welches mutmaßlich von Adolf Hitler gemalt wurde. Der Gedanke, dass dieses Bild weiter existiert und ihr Mann Philipp, der es jüngst von seinem Vater geerbt hat, mit dessen Verkauf ein kleines Vermögen machen will, ist Judith unerträglich. Sie ist Jüdin und glaubte bis eben noch, Philipps Familie habe mit den Nazis nichts zu tun gehabt. Das Bild aber, ein Dachbodenfund im väterlichen Haus, bringt einige Gewissheiten ins Wanken.

„Nachtland“ heißt die bitterböse Satire von Marius von Mayenburg, die am 3. Dezember 2022 an der Schaubühne Berlin zur Uraufführung kam. Mayenburg bedient sich darin bewährter Rezepte und kreiert daraus einen kurzweiligen, urkomischen und nie oberflächlichen Theaterabend.

Die Geschwister Philipp (Moritz Gottwald) und und Nicola (Genija Rykova) treffen sich im Haus ihres kürzlich verstorbenen Vaters, um dessen Haushalt aufzulösen. Während Nicola pragmatisch an die Sache herangeht, wirft der Tod des Vaters in Philipp existentielle Fragen auf. Eifersucht und alte Streitereien kochen in den Geschwistern wieder hoch. Deren ebenfalls anwesende Ehepartner:innen tragen nicht gerade zur Entspannung der Lage bei. Nicolas Mann Fabian (Damir Avdic) versucht zwar, zwischen den beiden zu vermitteln, verletzt sich aber bald an einem rostigen Nagel und wird sodann vom Wundstarrkrampf aus dem Rennen genommen. Die bereits erwähnte Judith (Jenny König) wird nicht nur von ihrer Schwägerin, sondern auch von ihrem Mann mit ihrer jüdischen Perspektive als schwierig wahrgenommen.

Als Nicola und Philipp besagtes Gemälde finden, entzündet sich daran ein Streit zwischen den vier Erwachsenen, der schnell aus dem Ruder läuft. Ein Todesfall, der die einander entfremdeten Familienmitglieder miteinander und dem gemeinsamen Erbe konfrontiert; vier Erwachsene, die im Streit anstands-, respektlos und unzivilisiert werden. Beides bekannte Muster, beide garantieren gute Unterhaltung. Allein, Moritz Gottwald und Jenny König erreichen in dieser Inszenierung nicht ihre gewohnten Höhen. Beide überspielen unnötig stark, sodass die Karikatur, die in ihren Rollen ohnehin angelegt ist, etwas verliert. Sie sollten mehr auf die ihren Rollen innewohnende Komik vertrauen. Genija Rykova lässt sich nach anfänglich ebenfalls zu starker Übertreibung mit der Zeit genüsslich in ihre Rolle der herrschsüchtigen und opportunistischen Tochter fallen. Herausragend jedoch sind Damir Avdic und Julia Schubert. Avdic spielt sowohl den Ehemann Nicolas als auch den Kunstkäufer überzeugend. In seiner Rolle als Ehemann balanciert er die Befindlichkeiten der rivalisierenden Geschwister und der unbequemen Schwägerin, bevor er mit der Forschung nach der Provenienz des Hitler-Gemäldes eine eigene Leidenschaft entdeckt. Sein Kampf mit der Symptomatik des Wundstarrkrampfes schließlich ist ein komödiantischer Höhepunkt der Inszenierung. Als er dann in der Rolle des Kunsthändlers die Bühne wieder betritt, verkörpert er auch diese Figur souverän und glaubhaft. Er zeigt einen Mann, der seltsam nüchtern einen Hitler- und Judenfetisch kultiviert; eine analytische Persönlichkeit, die von der Verstrickung der Deutschen in den Antisemitismus moralisch vollkommen unberührt, dafür historisch und ästhetisch umso faszinierter ist. Sein weibliches Pendant findet er in Julia Schubert als Expertin für die Malerei Adolf Hitlers. Frei von jeglichen moralischen Bedenken lässt auch sie ihrer Anbetung Adolf Hiltlers nicht nur als „Künstler“ freien Lauf: „Wo kämen wir denn da hin, wenn wir jeden mit einer Begeisterung für Hitler gleich als Nazi abstempeln würden?“

Das Stück ist voll von solchen deftigen, provokanten Sätzen aus dem Mund durchweg unsympathischer Figuren, die einem das Lachen im Halse stecken bleiben lassen. Einerseits auf ganzer Linie politisch inkorrekt, andererseits gespickt mit Wissen und (verdrängter) Wahrheit besticht der Text inhaltlich. Stilistisch wirkt er zuweilen bemüht und holprig, aber darüber trägt die inhaltliche Dichte hinweg. Mayenburg stellt in „Nachtland“ sich und dem Publikum wichtige Fragen ¬– zur Kunst, zur Geschichte und zur Moral und es tut wohl, diese einmal bis an die Schmerzgrenze durchzudeklinieren. Die Bühne (Nina Wetzel), vollkommen von braunem Plüsch überzogen, führt vor Augen, wie wohl und behaglich man sich in der deutschen Identität einrichten kann, wenn man nicht so genau hinsieht. Aber letztendlich ist es so: Die braune Sch**** ist überall zu finden, in den Familien, in der bildenden Kunst, in der Musik, Literatur, in unreflektierten Stereotypen und sie ist noch immer ¬– oder wieder – auch ganz präsent in der Mitte unserer Gesellschaft.

„Im Abendland ist es nach dem Holocaust nie wieder hell geworden. Es ist ein Nachtland“, sagt Judith. Stücke wie dieses von Marius von Mayenburg werfen Licht in die besonders dunklen Ecken.

Magdalena Sporkmann

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