Sweet Baby Jesus!

Mother Tongue von Lola Arias

Wer denkt, Eltern zu werden, sei in Deutschland eine vielleicht romantische, vielleicht pragmatische, höchstens noch traditionsbewusste oder religiös motivierte Angelegenheit zwischen zwei Menschen, hat weit gefehlt: Elternschaft ist politisch. Wenn Menschen in Deutschland Eltern werden wollen, dann redet ein ganzer Chor an Stimmen mit, aus dem diskriminierende Weltanschauungen laut werden. Denn gemäß der öffentlichen Meinung „darf“ in Deutschland längst nicht jede:r Eltern werden. Und manche müssen es angeblich.

„Mother Tongue“ von Lola Arias bringt Geschichten von Menschen auf die Bühne, die mit ihrer Entscheidung für oder gegen eigene Kinder auf große Hürden, Widerstände und Abwertung gestoßen sind. Die geballte Ladung dieser hoch emotionalen Geschichten kann man nicht anders als „krass“ bezeichnen. Manche Geschichten kommen einem traurig bekannt vor, andere klingen so absurd, so schockierend, dass man eigentlich ungläubig den Kopf schütteln möchte. Leben wir nicht im 21. Jahrhundert? Ein erschütternder und augenöffnender Theaterabend. Die Premiere fand am 11. September 2022 statt.

Weiblich gelesene Personen bekommen ab einem bestimmten Alter immer wieder die Frage gestellt: „Warum hast du eigentlich noch keine Kinder.“ Oder, mit etwas mehr Ungläubigkeit in der Stimme: „Willst du eigentlich gar keine Kinder?“ Gefragt werden sie nicht etwa von ihren engsten Vertrauten, sondern von Bekannten und Fremden. Die Annahme, das Leben einer Frau sei erst dann komplett, wenn sie Kinder bekommt, ist (noch) so sehr common sense, dass diese eigentlich sehr intime Frage vielen als salonfähig erscheint. „Ich bin zwar mit der Fähigkeit zur Reproduktion geboren worden, aber ich möchte sie nicht nutzen“, sagt Cochon de Cauchemar alias „Nympho-Ménage“ in „Mother Tongue“. Schocker! finden anscheinend viele.

Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Ufuk Tan Altunkaya, Kay Garnellen, Alice Gedamu, Millat Hyatt, Nyemba M’Membe, Sandra Ruffin und Leisa Prowd berichten, wie es homosexuellen Paaren ergeht, wenn diese ein Kind bekommen wollen, welche Hürden Transpersonen überwinden müssen, um Eltern zu werden, was passiert, wenn mehr als zwei Menschen gemeinsam Eltern werden wollen und was, wenn eine:r allein ein Kind bekommen möchte, wie Menschen kämpfen, deren Kinderwunsch sich auf „natürlichem“ Weg nicht erfüllt, wie Menschen mit Migrationsgeschichte begegnet wird, wenn sie in Deutschland Eltern werden (wollen) und wie es Müttern geht, die ihre Entscheidung für Kinder bereuen.

Die Performer:innen geben tiefe Einblicke in ganz persönliche Geschichten, die zugleich einen politischen Kampf beschreiben. In diesem Kampf prallt die individuelle Entscheidung für oder gegen Kinder auf Gesetze, Praktiken und Denkweisen, die manchen verbieten, Eltern zu werden und es von anderen fordern. Was ist eine Familie? Wer darf mit wem und bis zu welchem Alter Eltern werden? Ist Fortpflanzung die Erfüllung einer „natürlichen“ Vorsehung oder Arbeit? Und bedeutet eine Gebärmutter die Möglichkeit oder die Pflicht zur Fortpflanzung? Wie werden wir in Zukunft Eltern? Und wer darf das entscheiden?

Die Bühne ist von Regalwänden ausgekleidet, in denen sich Bücher, Artefakte und Kuriositäten aneinanderreihen. In diesem Raum des Wissens und der Geschichte wirken Performer:innen, Geschichten, Bild- und Tondokumente sowie Musik zusammen. Sie bauen einen vielschichtigen, verwirrenden, hitzigen Diskurs auf, in dem Wut und Trauer, Freude und Mitgefühl schwingen. Im Zentrum dieses Diskurses steht jedoch niemals eine Verbitterung über die Grenzen, sondern die unerschütterliche Überzeugung, dass die Entscheidung für oder gegen Kinder eine persönliche ist. „Mother Tongue“ ist mutig und ehrlich, aufrecht und stark. Das honoriert auch das Publikum, welches der empowernden Inszenierung stehenden Applaus und ausgebuchte Vorstellungen schenkt.

Magdalena Sporkmann

Foto: Ute Langkafel

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