// Amir nach Motiven von Mario Salazar //
Amir bedeutet Prinz. Doch Amirs Leben ist alles andere als herrschaftlich. Er ist als Kind arabischer Einwanderer aus Palästina nach Deutschland gekommen. In seinen Akten steht deshalb „staatenlos“. Die Staatenlosigkeit schützt ihn, seine Geschwister und seine Mutter vor der Abschiebung, doch in Deutschland aufgenommen wird Amir auch nicht, lediglich seine Duldung verlängert: „Ein Aufschieben der Abschiebung“, nennt es der für ihn zustände Beamte. Eine Arbeitserlaubnis erhält Amir nicht; kein Aus- und so kein Ankommen in Sicht.
In Amir erzählen Nicole Oder und Ensemble nach den Motiven von Mario Salazar eine Geschichte von Zurückweisung, Frustration, Hilflosigkeit und Schuldgefühlen angesichts deutscher Einwanderungspolitik. Die Inszenierung hatte am 27. April 2019 auf der Bühne des Berliner Ensembles Premiere.
Amir lebt mit seiner Mutter und seinen drei jüngeren Geschwistern in Berlin-Neukölln. Der Familienvater ist unerwartet früh verstorben. Infolge dieses Schocks hat Amir laut Behörden eine Impulskontrollstörung entwickelt, d.h. er ist unberechenbar, reizbar und neigt zu körperlicher Gewalt. Seine Aggressionen versucht Amir zuhause mit seinen Geschwistern beim Boxtraining abzubauen. Doch es nützt nichts: Er ist frustriert von der sozialen Quarantäne, in der die deutsche Einwanderungspolitik ihn festhält. Er kann sich ohne Arbeit und Einkommen kein Leben aufbauen. Die Menschen auf der Straße haben für ihn nur Blicke voller Argwohn und Abscheu übrig. Es ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, dass Amir kriminell wird: Diebstahl, Raubüberfälle, Körperverletzung.
Als Amir beim Joggen die deutsche Hanna kennenlernt und diese ihm offenbart, sein Blick löse in ihr Aufregung, „etwas Gutes“ aus, tut sich für Amir plötzlich eine neue Perspektive auf. Hanna, die sich selbst als „einsamen Wolf“ bezeichnet, wird seine Freundin, seine Verbindung zur deutschen Gesellschaft. Sie gehen gemeinsam tanzen, essen, ins Ballett.
Doch alles ist flüchtig. Am Horizont, der eine rotierende Wand über die gesamte Breite der Bühne ist, ziehen Kraniche vorüber. Bente Theuvsen lässt sie, wie auch das übrige Bühnenbild, live auf einem Projektor aus Tinte entstehen. Diese genial minimalistische und sehr atmosphärische Methode wird in hier von Brechts Gedicht Die Liebenden (1928/29) unterstrichen, das Kraniche beschreibt:
„(...)
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? - Nirgend hin. Von wem davon? - Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. - Und wann werden sie sich trennen? - Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.“
Nicht nur Hanna kommt Amir, der ihr kein zuverlässiger Partner sein kann, wieder abhanden. Auch seine Geschwister leben Stück für Stück ihr eigenes Leben in Deutschland, diesem Land, in das Amir keinen Eingang findet. Der eine Bruder arbeitet illegal, um sich und seiner Verlobten ein Leben aufzubauen, mit einem Zuhause, Kindern und endlich wieder ruhigem Schlaf. Amirs jüngster Bruder hat das Privileg, in Deutschland geboren zu sein und eine deutsche Bildungsbiografie vorweisen zu können. Und Amirs Schwester macht aus dem „barbarischen“ und zerstörerischen Boxen eine Kunst. Sie boxt Choreografien und darf schließlich für die deutsche Mannschaft antreten. Dafür erhält sie auch den deutschen Pass.
Amir und seine Mutter, die eine Depression in den Rückzug in ihren vom Frustfraß immer mächtigeren Körper zwingt, bleiben nur „Geduldete“. Der deutsche Pass ist in dieser Familienkonstellation Fluch wie Segen. Er ermöglicht den Geschwistern nicht nur einen sicheren Aufenthalt und eine vielversprechende Zukunft, sondern trennt sie zugleich brutal von ihren Brüdern und der Mutter, die jederzeit von der Abschiebung bedroht sind. „Es tut mir leid“, sagt Amirs Schwester als sie ihm von ihrem deutschen Pass erzählt. „Ich scheiße auf den deutschen Pass“, ruft Amirs Bruder verzweifelt als er sich aufgrund seines Privilegs von den Brüdern ausgeschlossen fühlt.
Nicole Oder und dem Ensemble ist es gelungen, die Bedrohung, die die deutsche Einwanderungspolitik für Menschen wie Amir und seine Familie bedeutet, begreiflich zu machen. Mit Burak Yigit ist die Rolle des Amir herausragend besetzt. So unermüdlich wie Amir seine Muskeln trainiert, seinen Körper beansprucht, so intensiv spielt Yigit diese Rolle, die eine schlaflose Nervosität und elektrisierende Anspannung ausmacht. Laura Balzer als Amirs Schwester und Nora Quest als Hanna stellen starke, in sich ruhende und extrem sanfte Frauen dar, die Amir zumindest zeitweise die Geborgenheit geben können, nach der er unermüdlich sucht.
Magdalena Sporkmann
Amir am Berliner Ensemble
mit:
Burak Yigit
Laura Balzer
Nora Quest
Elwin Chalabianlou
Tamer Arslan
Owen Peter Read
Regie: Nicole Oder
Bühne: Franziska Bornkamm
Künstlerische Beratung: Clara Topic-Matutin
Live-Zeichnungen: Bente Theuvsen
Kostüme: Vera Schindler
Musik: Heiko Schnurpel
Foto: © JR Berliner Ensemble