Angriff aus der Provinz

// 10. GlückAufFest der NEUEN BÜHNE Senftenberg //

Mit der zehnten Ausgabe des GlückAufFests verabschiedet sich der viel gelobte Intendant Sewan Latchinian vom Senftenberger Theater Neue Bühne. Unter dem Motto ‚Wirklichkeit‘ bringt das vom 14. September bis 2. November 2013 stattfindende Theaterfestival neben einer szenischen Lesung und einem Liederabend auch drei Uraufführungen von adaptierten Prosatexten – allesamt unter der Regie von Latchinian selbst – auf die Bühne. Das Publikum wird zu einer neuneinhalbstündigen “Flugreise“ durch die moderne und zeitgenössische deutsche Literatur eingeladen: von Ingo Schulze über Christoph Hein und Rainald Goetz bis hin zu Volker Braun.

Zunächst steht Bernd Färber in dem Einmannstück Unsere schönen neuen Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte nach dem gleichnamigen Text von Ingo Schulze auf der Bühne. Ausgehend vom Märchen von Des Kaisers neuen Kleidern präsentiert Latchinian die von Schulze aufgehäuften “nackten Tatsachen“ über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit. Es werden Blindheit für Rechtsextremismus, offene und verdeckte Zensur, der Ruin des Sozialstaats und unendlich Vieles mehr angeprangert. Schulze richtet den Fokus besonders auf die drastischen Erfahrungen der Ostdeutschen nach dem Zusammenbruch der DDR. Diese seien letztendlich dem Versprechen von Freiheit und Demokratie auf den Leim gegangen. Die bittere Erkenntnis aber, dass diese hehren Ideale nicht unter sozialen, sondern wirtschaftlichen Gesichtspunkten vermeintlich herrschen, wolle niemand wahr haben. Es ist wie im Märchen: Alle machen sich vor, der Kaiser sei in prächtige Kleider gehüllt, obwohl er nichts auf dem Leib trägt. Als moderner Kaiser wird denn in verblüffend ähnlicher Kostümierung (Tobias Wartenberg) Angela Merkel von Färber auf höchst amüsante und treffende Weise verkörpert. An das Publikum ergeht die sarkastische Mahnung, der, der die Kleider nicht sehe, sei unverzeihlich dumm. Mehr noch: Das Stück appelliert an das Vertrauen in die eigene Urteilskraft, denn erst dieses ermögliche Verantwortung und ein Leben in Würde.

Es ist betrüblich, dass der Leitsatz der Aufklärung sich immer noch nicht durchgesetzt hat. Dennoch scheint die Erinnerung daran – wenngleich angebracht – wenig innovativ. Insgesamt agiert das Stück zu larmoyant. Es klagt an, was viele wissen, ohne eine Vision zu entwerfen. Die bildliche Umsetzung als Kostümspiel macht einen etwas angestaubten Eindruck; das Publikum allerdings amüsiert sich prächtig.

Auch im nächsten Stück, Weiskerns Nachlass, nach dem gleichnamigen Roman von Christoph Hein, wird unserer Gesellschaft der Prozess gemacht, dieses Mal aus der Perspektive Rüdiger Stolzenburgs (Alexander Wulke), eines Dozenten und Kulturwissenschaftlers. Stolzenburg ist als “der intellektuelle Idealist“ eine durchaus positive, wenngleich kaum überlebensfähige Figur: Er bewegt sich trotz anspruchsvoller Arbeit am Existenzminimum, und seine Prinzipien werden von allen Seiten untergraben: Die Studenten versuchen, sich einen guten Abschluss zu erkaufen und Stolzenburgs Kollegen lassen sich von ihnen bestechen. Die wissenschaftliche Arbeit in den sogenannten “Schmetterlingsfächern“ erfährt keinerlei gesellschaftliche Wertschätzung und so droht selbst Stolzenburgs halbe Stelle an der Universität weggekürzt zu werden. Auch auf privater Ebene wird er zutiefst enttäuscht: soziale Beziehungen gründen sich einzig auf egoistische Wünsche (nach einem Kind, gesteigertem Wohlstand oder sexueller Befriedigung). Die Familie meldet sich nur bei Solzenburg, wenn sie etwas – Geld oder Hilfe beim Umzug – von ihm braucht. Stolzenburgs Alltag wird denn als der ständige Kampf gegen seine subversive Umwelt dargestellt. Er versucht, sich treu zu bleiben.

Alexander Wulke stellt Stolzenburg als einen Mann dar, der durch die ständigen Angriffe auf seine Überzeugungen und den Triumph der Bequemlichkeit über seine Ideale zum Zyniker geworden ist. Er nimmt seine Rolle sehr ernst und lässt sie in keinem Moment ins Lächerliche abgleiten. Stolzenburg ist die tragische Figur, der Sympathieträger.

Die bühnenbildnerisch (Tobias Wartenberg) wieder aufgegriffene Flugmetapher des Theaterabends scheint insofern sinnfällig, als dass sie die in rasender Geschwindigkeit und betäubender Gleichzeitigkeit auf Stolzenburg einprasselnden Ereignisse dokumentiert.

Kathi Liers ist es gelungen, den zäh sich dehnenden Prosatext gekonnt und sinnvoll zu kürzen und neu zu arrangieren. Ihre Bühnenfassung ist weit ausdrucksstärker als Heins Romanvorlage. – Wobei sich überhaupt die Frage stellt, inwieweit es sich um einen Roman handelt, so wirklichkeitsgetreu sind Heins Schilderungen. Leider. Dennoch: Die Anklage genügt wiederum nicht!

Mit der szenischen Lesung von Rainald Goetz‘ Johann Holtrop wird ein weiteres Individualschicksal dargestellt, jedoch ein zunächst scheinbar gegenteiliges. Johann Holtrop wähnt sich in seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender auf der Seite der Mächtigen. In menschenverachtender Weise regiert er ein 80.000 Mitarbeiter- und Millionenschweres Unternehmen. In ekstatischer Egomanie entgleitet er der Wirklichkeit immer mehr und schlittert letztendlich so rasant, wie er die Stufen des Erfolgs erklomm, in das private und wirtschaftliche Desaster. Unfähig, darauf zu reagieren, richtet er sich selbst. Ganz nebenbei werden die menschlichen Kollateralschäden erwähnt, die Holtrop mit seinem Führungsstil anrichtet. Am Ende steht die sarkastische Frage im Raum, ob nicht die Johann Holtrops unter uns letztendlich nicht nur Täter, sondern auch Opfer des Kapitalismus und damit unseres Gesellschaftssystems sind. Denn schlussendlich bleiben alle in der einen oder anderen Weise auf der Strecke.

Gelesen wird der Text von Sewan Latchinian, Eva Kammigan und Anna Kramer. Während Eva Kammigans Vortrag mit dem brillanten Lesestil Latchinians harmoniert, bleibt Anna Kramer mangels Ausdruck und sinnvoller Betonung weit hinter den beiden zurück.

Überraschend modern und kühl, dabei aber durchaus gelungen, kommt das Bühnenbild (Stephan Fernau) daher: Alles spielt sich in einem an zwei Seiten offenen Holzkubus ab, den Latchinian auf akrobatische Weise bespielt. Gefilmt von einer Kamera, deren gekipptes Bild auf zwei separate Leinwände projiziert wird, entstehen drei Ebenen, auf denen sich die Gesetze der Schwerkraft – analog zur Steigerung Holtrops Egomanie – aufzuheben beginnen.

Der anspruchsvolle und poetische Text Goetz‘ ist sicher ein Höhepunkt des Abends. Erneut deprimiert jedoch die Einsicht in die Versklavung des Menschen durch sein selbstgeschaffenes System.

Einen fordernden und vielschichtigen Abschluss der Aufführungen bietet die Inszenierung der Theaterfassung von Volker Brauns Die hellen Haufen. Es geht um einen Aufstand von Gruben-Arbeitern und ihren Frauen gegen die Schließung des Bitterröder Schachts.

Mehrere große Halden, an deren gefährlichen Abhängen sich die Figuren bewegen, sind auf der Bühne zu sehen (Katharina Sichtling). Dröhnende live-Musik von Wallahalla illustriert akustisch die Kampfeshandlungen. Die Kostüme sind, wie in allen Inszenierungen mit einfachen Mitteln ausdrucksvoll zusammengestellt: Alles ist hier in grau gehalten und wirkt sofort sogartig wie eine live-schwarz/weiß-Aufnahme tatsächlicher Begebenheiten.

Die Arbeiterfamilien schließen sich zusammen, beflügelt von der Hoffnung auf eine Macht der Gemeinschaft gegen das Unrecht durch einige Wenige. Elektrisierend flackern Selbstbewusstsein und Eigenverantwortung der Arbeiter auf, mitreißend singen sie ihre Lieder, kämpfen gewaltlos für eine soziale Gesellschaft. Am Ende unterliegen sie jedoch der großen Ungerechtigkeit des Kapitalismus. Mit den Arbeitsplätzen in der Grube schwindet auch jegliche soziale Infrastruktur. Damit reiht sich die Dramaturgie gut ein, in die vorherigen Inszenierungen, allerdings scheint der Ansatz, allein in der Gruppe, durch Zusammenarbeit etwas bewegen zu können, der konstruktivste zu sein. Dieser ist zwar keinesfalls neu – und es tauchen auch reichlich rote Attribute auf, ein Wink, den der Großteil des Senftenberger Publikums wahrnehmen wird –, aber es ist der edelste.

Nach solch schwer verdaulichem Stoff bietet der Liederabend von und mit Liedern von Hans-Eckardt Wenzel einen willkommen-heiteren Ausklang.

Insgesamt ist das Programm dieses Theaterabends vollkommen auf das Senftenberger Publikum – wenngleich auch viele Auswärtige sich dieses kulturelle Ereignis nicht entgehen lassen wollten – zugeschnitten. Es werden die Nach-Wende-Erfahrungen der Ostdeutschen thematisiert, genauso wie die Tagebau-Vergangenheit der Region. Der Kapitalismus steht allgegenwärtig als mächtiger Feind im Saal. Alles Menschliche: Beziehungen, soziale Organisation, Kultur usw. hat unter seinem Regiment zu leiden. Dabei wird keinesfalls die Eigenverantwortung des Einzelnen außer Acht gelassen, doch die Kritik bleibt zu allgemein, es fehlt an konkreten Utopien. Dennoch muss festgehalten werden, dass eine so deutliche Meinungsäußerung, wie sie im Zusammenspiel dieser Inszenierungen laut wurde, eine wichtige und beachtliche Leistung für ein Theater allemal und eine Provinzbühne im Besonderen ist.

Magdalena Sporkmann

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