Wo ist das „Land ohne Tod“?

// Amazonas von Alfred Döblin //

Am 1. Oktober 2010 präsentierte Jan Neumann seine erste Arbeit am Maxim Gorki Theater dem Publikum: die gleichnamige Bühnenadaption des Romans Amazonas von Alfred Döblin feierte seine Berliner Premiere. Der Autor selbst versteht seine Erzählung als eine „Generalabrechnung mit unserer Zivilisation“ und Jan Neumann steht ihm in dieser Radikalität in nichts nach.

Im 15. Jahrhundert galt Südamerika wegen seiner reichen Bodenschätze in Europa als ein El Dorado und zog den „weißen Mann“ auf der Suche nach finanziellem Glück wie ein Magnet an, seinen Lebensraum schaffte er sich – wohlbekannt – auf martialische Weise. Die großen Kolonialmächte Spanien und Portugal teilten das Land unter sich auf und zahlreiche Missionare begannen, das Christentum in Südamerika zu verbreiten. Fortan suchten die Indios das „Land ohne Tod“. Soweit die geschichtliche Grundlage.
Unversehens wird das Publikum von zwei Kolonialherren empfangen, die voller Erregung von dem „Land am Amazonas“ berichten, von den „Entenleuten“, einem indigenen Stamm, und den – natürlich – „Amazonen“, um die sich der Mythos webt, sie hätten sämtliche Männer ihres Stammes umgebracht, um eines selbstbestimmten Lebens Willen; hielten lediglich einige als Sklaven und aus Lust. Schon in dieser Anfangsszene macht sich bemerkbar, was später das akustische Verständnis des Textes erheblich beeinträchtigen soll: Zu hastig, zu laut wird gesprochen, dazu gleichzeitig und nicht synchron. Was enthusiastisch wirken soll, wird zu Anstrengung für den Zuschauer, den Inhalt aus diesem verwirrenden und überstürzten Bericht herauszukristallisieren. Sodann wird das Publikum, sichtlich verblüfft und gespannt, eingeladen, den beiden durch die Kolonialgeschichte Südamerikas zu folgen, nicht geschichtlich-faktisch, sondern emotional. Wir erleben die Einschüchterung und Zurückdrängung der indigenen Völker durch die Europäer; auch ihre Auflehnung und Kampfbereitschaft, doch dann ihre blutige Niederlage. Einzelne Grausamkeiten, wie eine Vergewaltigung, greift Jan Neumann heraus und lässt sie den beschämten und überforderten Zuschauer in roher, fleischlicher Darstellung ertragen. Nachdem die Ureinwohner sich ihrer Unterlegenheit bewusst geworden sind, werden sie auch geistig gezähmt, indem sie die Missionare zu einer christlichen Lebensweise zwingen. Dazu gehört neben der Anleitung zum Anbau von Maniok, Mais und Baumwolle auch eine Richtlinie für das korrekte Abstellen der Pantoffeln im Raum. Dies ist einer der Momente, an denen die Komik des Textes aufblinkt; ein dankbares Aufatmen im sonst belastenden Spiel: Fraglich ist nach dem Besuch des Stückes, wessen Nerven stärker beansprucht werden: die der Schauspieler oder die des Publikums? – Es wird viel geschrien, wiederum zu Ungunsten des Textverständnisses. Jedoch auch inhaltlich ist der Handlung nur mühsam zu folgen, bleibt es doch zumeist bei einem überstürzten, zwischen den fünf Darstellern aufgeteilten Bericht. Interaktion findet nur durch den variierenden Tonfall und das körperliche und mimische Spiel statt.

So sind auch den Darstellern keine konstanten Rollen zugeschrieben, sondern sie verkörpern für uns prominente Figuren, die die Geschichte bevölkern, Europäer wie Indios. Glanzlichter des Theaterabends waren die Darbietungen der weiblichen Akteure: Sabine Waibel stach mit einer differenzierten und gut artikulierten Textrezeption hervor, während Anna Griesebach durch ein sensibles Spiel überzeugte. Johann Jürgens gab das „enfant terrible“, den großspurigen, aggressiven Unterwerfer. Matti Krause zeigte eine solide Umsetzung des Textes, während Andreas Leupold kaum zu Gehör kam: Teils ist sein Spiel zu wenig kraftvoll, teils überschreien ihn die „Jungen Wilden“ einfach.

Einen nennenswerten Beitrag zur Umsetzung von Döblins Text hat Matthias Werner geleistet: Er gestaltete ein enorm flexibles Bühnenbild, welches das Publikum auf besondere, niemals aufdringliche, Weise in das Spiel auf der Bühne integriert. Bemerkenswert ist hierbei der Einsatz, vielmehr die Benutzung, des Lichtes durch die Schauspieler selbst: Mit einfachen Schreibtischleuchten setzen erstaunliche Akzente. Immer wieder werden zudem Landkarten herangezogen: Die Gründung der bekannten Jesuitenrepublik in Paraguay wird durch einen simplen Schriftzug quer über die Abbildung Südamerikas beschlossen. Diese Szene steht exemplarisch für die kritische Haltung gegenüber dem Kolonialismus – in damaligem wie in heutigem Sinn –, welche Jan Neumann uns vermitteln möchte. Das barbarische Benehmen der Zivilisationsländer gegenüber ihren „Kolonien“ ist ein Leichtes, sind doch solche, die Beschlüsse fassen, weit entfernt von jenen, über welche sie entscheiden: Distanz und Abstraktion sorgen für emotionale Unbeteiligung, die „Entwicklungshilfe“ durch christliche Missionierung für das reine Gewissen. Erschreckend ist die Aktualität der Zustände: Junge Freiwillige aus Europa im einjährigen „Selbstfindungs-Urlaub“ erklären Südafrikanern aus sozial schwachen Kreisen, nur ihr Glaube an das Christentum könne sie aus ihrer prekären Lage retten. Zum besseren Verständnis der christlichen Lehre dienen den Junior-Missionaren Farben – darunter „Schwarz, die Farbe der Sünde; jeder Mensch hat gesündigt“; und „Weiß, die Reinheit von den Sünden durch Jesus‘ Tod am Kreuz“.

Gleichfalls reduziert und dabei höchst variabel sind die Kostüme. Wiederholte Lacher erntet die Gelungene „Maskierung“ eines Stammeshäuptlings, der sich über den Bauantrag für eine Kirche mit seinen Beratern und „guten Geistern“ bespricht.
Das Stück entbehrt durchaus nicht Witz noch Scharfsinn, lange und akustisch strapaziöse Monologe allerdings bilden ein überschweres Gegengewicht. Jener, der diese Belastung nicht scheut, wird mit einem ungewöhnlichen Theaterbesuch belohnt, dessen Botschaft dringlich zum Nachdenken über die globalen Beziehungen unserer modernen Welt und dem eigenen Mitwirken daran, als Konsumenten in einer kapitalistisch organisierten Ordnung, animiert.

Magdalena Sporkmann

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