An diesem Tag waren alle Menschen gut.

// Tag der Weißen Blume von Farid Nagim //

Im Rahmen der Autorentheatertage Berlin kam es am 5. und 6. Juni 2014 im Deutschen Theater zur Premiere vom Tag der Weißen Blume, einem Stück des zeitgenössischen russischen Schriftstellers Farid Nagim. Dies ist das zweite Stück des Autors, welches in Deutschland uraufgeführt wurde. Als kritischer Geist behandelt Nagim Themen, die in Russland tabuisiert sind, und wird dort aus diesem Grund nicht gespielt. Obwohl der Tag der Weißen Blume dezidiert von zwei Ereignisse in der russischen Geschichte und deren Auswirkungen auf das Individuum handelt, ist es für ein nicht-russisches Publikum auch jenseits eines pointierten Einblicks in eine uns eigentlich fremde Gesellschaft interessant.

Im Grunde werden zwei Systeme kontrastiert, das kommunistische unter Lenin nach der Revolution von 1917 und das neo-kapitalistische nach der Revolution Ende der 90er Jahre. Noch vereinfachter gesagt: Es scheint, als werde das “System“ an sich dargestellt, wie es – sei es durch Gewalt oder diktatorische Bürokratie – den Einzelnen unterdrückt. Es werden die Heilsversprechen – in Form der Ideologie – als Köder entlarvt, die nur dazu dienen, die Menschen zu lenken und scheinbar freiwillig systemkonform zu halten. Angst und Unfreiheit beherrschen das Individuum im “System“.

Die Auswirkungen der beiden russischen Revolutionen stellt Nagim anhand zweier Geschwisterpaare dar. Beide sind “Systemgegner“, und beide werden vom System besiegt.

Das bürgerliche Geschwisterpaar Sina und Pawel lebt auf einer Wetterstation auf der Krim. Ihre Eltern wurden von den Bolschewisten erschossen, und Pawel droht das gleiche Schicksal, da er als Weißgardist zu den Feinden der Kommunisten gehört. Sina versteckt ihren Bruder im Keller. Sein Schutz wird zu ihrem Lebensinhalt. Immer wieder versetzen sie die Besuche der misstrauischen Geheimpolizisten Omon und Ljudka in Angst und Schrecken.

Die Parallelgeschichte erzählt von Radik und Lilja. Radik ist vom Land nach Moskau gezogen, um dort als Schriftsteller zu leben. Auch seine jüngere Schwester Lilja flieht dem perspektivlosen Landleben, dem trinkenden und sexuell übergriffigen Vater, sowie der kranken Mutter, und schließt sich ihrem Bruder an. Ohne Pass, Geld, Ausbildungs- oder Arbeitsplatz liegt sie Radik auf der Tasche. Noch dazu ist dieser keineswegs ein erfolgreicher Schriftsteller geworden, sondern haust in einem winzigen Zimmerchen zur Untermiete bei der arroganten Ljudka. Sie alarmiert regelmäßig den korrupten und gewaltbereiten Polizisten Omon, welcher die Geschwister einschüchtert. Ihr Verbrechen ist es, keinen Pass zu haben (weil die Passbehörde abgebrannt ist) und keinen Job (weil sie außer bei McDonald’s keinen bekommen). Lilja knickt ein und beginnt beim Chicken McNugget-König zu arbeiten. Ihre Eltern schicken ihr endlich einen neuen Pass und sie zieht, wie es ihrer Situation angemessen sei, in ein Wohnheim. Doch das Glück, welches der Kapitalismus seinen Systemtreuen verspricht, mag sich nicht einstellen.

Auffällig ist besonders die Parallele zwischen den Polizeidiensten heute wie damals. Namentlich weist der Autor darauf hin. Statt Sicherheit für die Bürger zu schaffen, scheint die Polizei einzig dazu da zu sein, für die Einhaltung des politischen Diktats der Machthaber zu sorgen. Nonkonformismus wird nicht geduldet. Das Privatleben wird stark von der Politik (untrennbar mit der Wirtschaft verbunden) kontrolliert und bestimmt. Das gilt auch für die Sexualität.

Diese Enge findet ihre Entsprechung in dem so einfachen wie wirkungsvollen Bühnenbild. Merle Vierck hat einen grauen Raum mit trüben Fenstern entworfen, in den nie Tageslicht dringt, und der außer einem Telefon, einem leeren Kühlschrank, zwei Steinblöcken und einem Schlagzeug unmöbliert ist. Der Raum ist niedrig, und die einzige Tür so klein, dass die Schauspieler sich immer wieder den Kopf am Türrahmen stoßen.

Akustisch erzittert der Saal gelegentlich von den Faustschlägen der Kommissare, die in den privaten Raum eindringen (Ton: Marcel Braun). Das ist beklemmend. Doch es gibt auch immer wieder heitere Momente. Momente, in denen die Zuneigung zwischen den Geschwister die dunkle Realität überstrahlt. Dann schmettern sie gemeinsam Rock- und Popsongs, tanzen und musizieren. Diese musikalischen Einlagen fügen sich als “harmonischer Kontrast“ in das Stück ein. Hier wirkt nichts erzwungen, nicht wie “gewollt-und-nicht-gekonnt“, alles echt und voller Energie.

Benjamin Lillie in der Bruder-Doppelrolle als Radik und Pawel „rockt“ das Stück. Er wechselt zwischen lebenshungrigem Hobbymusiker und melancholischem Gefangenen. Er zeigt Momente, in denen alles hoffnungslos scheint und solche, in denen die Resignation wie Auflehnung wirkt. Einen Augenblick lang gibt er sich teilnahmslos auf und ist im nächsten der große Bruder, der sein kleines Schwesterlein vor dem bewahren will, was ihm selbst widerfährt.

Kathleen Morgeneyer spielt dieses Schwesterlein – ebenfalls in einer Doppelrolle als Sina und Lilja – als kongeniale Partnerin. Frau Morgeneyer wird zum Mittelpunkt des Abends. Ihre Ausdrucksvielfalt und -intensität sind erstaunlich. Sie ist in der Lage, deutlich zwischen beiden Rollen zu unterscheiden und gleichzeitig die Entwicklung innerhalb jeder einzelnen Figur zu zeigen. Sie beginnt als biedere, furchtsame Bürgerliche. Im Laufe des Stücks lässt sie Sina mutiger werden, selbstbewusster und zielstrebiger. Doch bleibt immer die Bruderliebe, dieses zarte Pflänzchen, erhalten. Ihr würde sie alles opfern. Und für sie wird Sina stark. Lilja führt Kathleen Morgeneyer als naives, schreckhaftes Mädchen ein, das, geleitet nur von den eigenen Träumen und Idealen, in die große Stadt Moskau aufbricht, um dort ihr Märchenleben bei ihrem Märchenbruder zu führen. Ehrlich schockiert zeigt Morgeneyer sie vor der grobschlächtigen Ljudka und zu Tode verängstigt vor der Polizei. Doch schon zu diesem Zeitpunkt entschlüpft ihr auch mal eine kecke Bemerkung über den korrupten Polizisten. Sie bleibt romantisch und gefühlsbetont, wird aber eigenständiger. Sie entscheidet sich dafür, wenn schon nicht ihr Traum Wirklichkeit werden kann, zumindest die Wirklichkeit zum Traum zu erklären. So wird scheinbar alles leichter. Ihre Lebensfreude und Energie entlädt sich in wilden Tänzen. Sie ist sexy und zugleich selbstironisch. Höhepunkt und Anlass für einen spontanen Applaus ist ihr McDonald’s-Beschwörungstanz. Schon ihr Kostüm in dieser Szene – eine Art indianischer Poncho aus McDonald’s-Verpackungen (Merle Vierck) – ist ein großer Wurf.

Heike Makatsch und Felix Goeser als Ljudka und Omon nehmen sich nichts in ihrer Darstellung der gefühlskalten Verräter und Unterdrücker. Beide eigentlich schwache Charaktere – sie köperlich uns seelisch vereinsamt, er nicht sonderlich intelligent – fühlen sich nur im System, in der Gruppe, stark. Diese Gruppe verteidigen sie, indem sie die Außenseiter vernichten. Alles, was ihnen ihr eigenes Ungenügen vor Augen hält, muss eliminiert oder zumindest geschwächt werden.

Das Deutsche Theater präsentiert Farid Nagim in dieser brillanten Inszenierung von Stephan Kimmig als einen sehr interessanten Autor. Dramaturgisch ist es gelungen, die geschichtlichen Parallelen gegeneinander zu stellen, ohne zu verwirren und zu theoretisieren. Die ineinander verflochtenen Geschichten sind fesselnd und sehr poetisch erzählt (Übersetzung:Yvonne Griesel).

Magdalena Sporkmann

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