Analoge Langeweile

// Klassenbuch nach dem Roman von John von Düffel //

Falls Sie kein digital native sind und erfahren wollen, wie es sich anfühlt, die „digitale Adoleszenz“ zu durchleben, bietet Ihnen das Deutsche Theater Berlin in Kristo Šagors Inszenierung des Romans Klassenbuch von John von Düffel dazu eine eindrucksvolle Gelegenheit. Wortgewandt hat von Düffel zwölf Jugendlichen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die Stimmen gegeben, um über ihre Erfahrungen auf der Grenze nicht nur zwischen Kind- und Erwachsensein, sondern auch zwischen digitaler und analoger Welt zu sprechen. Leider vermögen es weder die Poesie dieses Textes noch die ästhetisch sehr reizvolle Inszenierung von Kristo Šagor, darüber hinweg zu täuschen, dass eineinhalb Stunden lang vollendete Trivialität herrscht. – Analoge Langeweile. Die Uraufführung fand am 12. Februar 2018 statt.

Dabei geschieht eigentlich pausenlos Dramatisches: Emily „bullimisiert ihr Frühstück heraus“, Bea schlitzt sich mit einem „Gilette Venus“ die Pulsadern auf, Stanko haut ab und geht zurück in seine Heimat Bosnien, obwohl er noch nie zuvor dort gewesen ist, und Annika bestattet manisch mit ihrem kleinen Bruder überfahrene Tiere. John von Düffel ist es gelungen, für diese Jugendlichen eine originelle Sprache zu finden, die sich literarisch irgendwo zwischen Jugend-Slang und Poesie bewegt. Die Aussagen, die seine Figuren damit treffen, bleiben aber vollkommen belanglos und oberflächlich. So klingt das Meiste nicht fremd, nicht überraschend oder neu, sondern als habe man es so oder etwas anders schon einmal irgendwo gehört, eine Geschichte wie die andere und keine berührend. Die Figuren taugen allerhöchstens als schillernde Parodien etwas „nerdiger“ Jugendlicher.

Eine Qualität, die Kisto Šagor mit seiner Inszenierung unterstützt, indem er die Monologe der Jugendlichen mit atmosphärischen Videoprojektionen von Sebastian M. Purfürst hinterlegt und eindrucksvolle Figurenkompositionen auf der minimalistischen Bühne (Anne Ehrlich, Janja Valjarević) findet. Vanessas digitaler Selfie-Himmel mutiert auf den Bildschirmen ihrer Mitschüler zur Exhibitionismus-Hölle. Li ringt buchstäblich artistisch um den Eintritt in die Kunsthochschule, um sich dort zur Opernsängerin ausbilden zu lassen. Annika sitzt im Regen, der auf dem Asphalt zu Nummern zerplatzt, die vielleicht die dort überfahrenen Tiere beziffern. Es sind hunderte und ihr kleiner Bruder, der sie auf einem quietschgrünen Klappfahrrad umkreist, übt in seinem morbiden Hobby der Tierbestattung Liebe und Fürsorge, die ihm seine Eltern nicht geben können.

Der komplexe Text und die dynamische Inszenierung spannen die jugendlichen Darsteller stark ein und diese meistern die Herausforderung tatsächlich spielerisch. Pepe Röpnack begleitet sich selbst humorvoll zu Stankos Monolog auf der Gitarre und Noemi Clerc entfesselt in ihrer Interpretation der Emily die eiskalte Disziplin, mit der die bulimische Streberin sich und alle anderen dominiert.

Jedoch ist das sprachlich und optisch bezirzende Erlebnis, das Klassenbuch bietet, reiner Selbstzweck. Zurück bleibt das deprimierende Gefühl, dass die „digitale Adoleszenz“ ein depressiver Egotrip auf Langeweile ist. „Es geht nicht darum, ob wir uns langweilen, sondern nur darum, wessen Langeweile wir konsumieren“, heißt es im Stück. Klassenbuch bietet, wie gesagt, hier eine authentische und analoge Möglichkeit, das auszuprobieren.

Magdalena Sporkmann

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