// Leerlauf von Rik van den Bos //
Noch bis Ende des Jahres 2014 werden deutsche Bundeswehrsoldaten in Afghanistan im Einsatz sein. Zu diesem Zeitpunkt werden dann seit elf Jahren deutsche Soldaten in Afghanistan kämpfen. Die meisten Menschen in Deutschland sind aber von dieser Tatsache kaum betroffen. Sie kennen keinen dieser Soldaten und werden höchstens durch die Nachrichten daran erinnert, dass ihr Land militärisch in einen Krieg verwickelt ist. Auch die zurückgekehrten Soldaten bleiben unsichtbar. Sie erfahren weder gesellschaftliche Wertschätzung für ihre geleistete Arbeit noch ein menschliches Interesse für ihre schwer zu verarbeitenden Erlebnisse.
Der junge niederländische Dramatiker Rik van den Bos hat es sich zur Aufgabe gemacht, „verborgene Geschichten zu erzählen, um Menschen, die im öffentlichen Raum nicht sichtbar, in öffentlichen Debatten nicht hörbar sind, einen Körper und eine Stimme zu geben.“ In dem am 27. Oktober 2013 im Deutschen Theater Berlin unter der Regie von Marvin Simon uraufgeführten Stück Leerlauf portraitiert Rik van den Bos den jungen Soldaten Birke (Thorsten Hierse), der von einem NATO-Wüsteneinsatz nach Hause zurückgekehrt ist. Er hat seinen Kameraden Patrick bei der Detonation einer Bombe neben sich sterben sehen und kam selbst mit einer Verletzung des Ohres davon. Zurück in der Heimat ringt Birke mit den typischen Fragen eines traumatisierten Soldaten: Warum ist er tot, während ich noch lebe? Wie soll ich weiterleben, da ich mich so verändert habe, meine Heimat aber gleich geblieben ist? Wie kann ich das Grauen, das ich erlebt habe, begreifen? Wie kann ich für andere in Worte fassen, was der Krieg für mich bedeutet? Als Bouwman (Jörg Pose), Patricks Vater, Birke aufsucht, um mit ihm über den Tod seines Sohnes zu sprechen, findet Birke keine Worte, um das furchtbare Ereignis zu beschreiben. Beide Männer versuchen, die Gräuel des Krieges zu begreifen und zu verarbeiten. Im Dialog scheinen sie Trost zu finden, doch die Opfer des Krieges – der Vater, der seinen Sohn verloren hat, und der junge Soldat, der selbst kämpfte – bleiben unter sich, abgeschlossen von der „heilen Welt“.
Rik van den Bos versucht, die Opfer des Krieges durch das Medium Theater wenigstens hörbar zu machen. Er thematisiert die gestörte Beziehung der Kriegsopfer zu sich selbst und ihrer Umwelt. Wie kann ein Mensch begreifen und verarbeiten, was er im Krieg erlebt hat? Und wie sollen all jene, die den Krieg nicht kennen, mit ihm umgehen? In Leerlauf zerbröseln allmählich alle zwischenmenschlichen Beziehungen an der Last der Kriegserfahrung. Der durch den Krieg verstörte und veränderte Birke wird von seiner Freundin verlassen, von seinen Freunden zurückgewiesen und von seinen Eltern hilflos-liebevoll aufgenommen. Doch er lehnt sich selbst so stark ab, dass er diese elterliche Zuneigung als ihm nicht gebührend empfinden und sie flüchtet. Auch Bouwman lebt nach dem Tod seines Sohnes zurückgezogen und allein; auch seine Frau hat ihn verlassen.
Das Stück hält keine Lösungen parat. Es zeigt nur, was sonst im Verborgenen geschieht. Rik van den Bos hat sich von vielen Soldaten über ihre Erfahrungen im Afghanistan-Einsatz erzählen lassen. Der daraus kondensierte Theatertext macht die seelische Not und Isolation der traumatisierten Soldaten auf poetische und eindringliche Weise spürbar. Es gelingt dem jungen Dramatiker, zu zeigen, ohne anzuklagen. Dennoch ist deutlich ein pazifistischer Unterton hörbar: Die Soldaten entscheiden sich zwar zumeist freiwillig für einen Dienst in der Armee und an der Waffe. Dennoch sind sie Opfer des Krieges. Bouwman beginnt durch den Tod seines Sohnes nach der Ursache von Kriegen zu fragen. Ihm wird klar, dass die Interessen einiger Weniger unter dem Deckmäntelchen eines gesellschaftlich anerkannten Motivs genügen, um Kriege zu beginnen, die Tausende das Leben kosten. Indem der einzelne Bürger passiv bleibt und die Entscheidungen der Mächtigen hinnimmt, befürwortet er sie, befürwortet er die Kriege. Bouwman erkennt, dass er als der Erfahrenere, seinen Sohn hätte zurückhalten müssen. Auf diese Weise versucht van den Bos, deutlich zu machen, dass jeder einzelne mehr an den Kriegen und deren Opfern beteiligt ist, als er wahrscheinlich vermutet. Er möchte ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Verantwortung an den Militäreinsätzen des eigenen Landes schaffen. Kurzum: Die Bundeswehrsoldaten kämpfen und sterben in Afghanistan, weil sie sich dafür entschieden haben und niemand sie davon abgehalten hat.
Neben den großartigen sprachlichen Bildern, die van den Bos anbietet, hat Bühnen- und Kostümbildnerin Merle Vierck es auf originelle Weise verstanden, die Handlung zu unterstreichen. Der Bretterboden, auf dem Birke lebt ist voller Spalten und sehr instabil. Der unsichere Gang des jungen Mannes darauf ist Spiegelbild seiner völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Seele. Obwohl er nun in der “friedlichen“ Heimat ist, reißt ihn seine Erinnerung immer wieder zurück in die afghanische Wüste. Sand rieselt aus der Decke und auch unter den Dielen quillt er hervor. Jedes Geräusch (Musik: Mathias Frank) mutiert zur Kampfkulisse. Sonst ist der Raum kahl, leer wie die Wüste. Birke schwitzt, als wollte die heiße afrikanische Sonne ihn versengen. Bouwmann, schließlich, kommt mit einem Fallschirm herein gesegelt, so besessen ist er davon, den Krieg zu verstehen. Doch wie ein hilfloser Tropf steht er inmitten der seidigen Fülle, wie einer, der in der Wüste notlanden musste. In diesem Zimmer, in dieser Wüste, treffen sich die beiden Fragenden.
Thorsten Hierse hat in seine Interpretation des Soldaten Birke unheimlich viel Energie gesteckt. Auf fast erschreckende Weise scheint er sich in seine Rolle eingefühlt zu haben. Nahezu ohne Unterlass schwitzte und zitterte er zugleich; sein Körper eine revoltierende Hülle gegen den Ansturm seiner Seele. Hierse zeigte in Birke die ewig gleichen menschlichen Bedürfnisse nach Nähe, Zuneigung und Verständnis und zugleich den durch das Trauma aus der Gesellschaft und allen menschlichen Kategorien Entrückten. Seinen unkontrollierten Ausbrüchen begegnete Bouwman, überzeugend von Jörg Pose verkörpert, mit einer traumwandlerischen Weltfremdheit. Pose gibt Bouwman als durchaus künstlich überzeichnet – wie er über die Geschichte des Krieges doziert und seine eigene Zurückgezogenheit zelebriert. Doch er steht damit für das außerhalb jeglicher menschlicher Vorstellungskraft liegende Grauen des Krieges.
Regisseur Marvin Simon hat die Aussage des anspruchsvollen und sprachschönen Textes von Rik van den Bos zum Klingen gebracht. Ein modernes Anti-Kriegs-Stück, welches sich inmitten unserer Gesellschaft abspielt. Fraglich ist, inwieweit das Stück sein richtiges Publikum findet. Die Zuschauer zeigten sich schwer betroffen und zugleich begeistert. Allerdings muss man davon ausgehen, dass die Botschaft des Stücks bei einem ohnehin für gesellschaftliche Fragen sensibilisierten Publikum wenig bewegen kann. Es bleibt die Bestätigung der eigenen Überzeugungen. So mitreißend und aufregend diese Inszenierung ist, scheint jedoch unzweifelhaft, dass sie auch außerhalb der altehrwürdigen Mauern des Deutschen Theaters Gehör finden und so ihre gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten kann.
Magdalena Sporkmann