In Elysischen Gefilden

// Endstation Sehnsucht von Tennessee Williams //

Zwischen hochsymbolischen Orten wie ihrem Zuhause namens Belle Rêve und einem Ort, der sich sarkastisch „Elysische Gefilde“ nennt, und irgendwo kurz vor der Endstation Sehnsucht und dem Friedhof liegt, entfaltet sich der unaufhaltsame Abstieg der Blanche DuBois. Michael Thalheimer inszeniert ihn am Berliner Ensemble in Endstation Sehnsucht als das Anfliegen eines zarten weißen Schmetterlings gegen einen Orkan, der ihn unweigerlich irgendwann gegen die Wand drücken wird. Dieses viel gespielte Stück von Tennessee Williams über zerstörerische und selbstzerstörerische Tendenzen, kondensiert in Thalheimers Inszenierung zu einem Strom eindringlicher Dramatik. Die Premiere fand am 21. April 2018 statt.

Blanche duBois (Cordelia Wege), Tochter einer alten Südstaaten-Aristokratie, hat alles verloren. – Mutter und Vater sind gestorben und haben ihr außer einem riesigen Anwesen namens Belle Rêve (fr. „Schöner Traum“) nichts hinterlassen. Doch der Tod ist teuer und Blanche bezieht nur ein geringes Gehalt aus ihrer Stellung als Lehrerin. Als dieses nicht mehr ausreicht, um das große Anwesen zu erhalten, ist sie gezwungen, sich von ihrem „schönen Traum“ zu verabschieden. Sie zieht in das zwielichtige Hotel Flamingo, in dem sie sich einer Illusion von Geborgenheit im Sex mit wildfremden Männern hingibt. Als sie sich ihr Zimmer dort nicht mehr leisten kann, geht sie schließlich zu ihrer Schwester Stella (Sina Martens), die einst der Familie den Rücken kehrte, um mit ihrer großen Liebe Stanley (Andreas Döhler) zusammenzuleben. Als Fabrikarbeiter und Sohn polnischer Einwanderer genügte er nicht den DuBois’schen Anforderungen an einen standesgemäßen Schwiegersohn. Als Blanche den Wohnort ihrer Schwester erreicht, glaubt sie, sich verirrt zu haben, und fragt eine Nachbarin nach dem Weg: „Man sagte mir, ich solle eine Straßenbahn namens ,Sehnsucht‘ nehmen, dann in eine namens ,Friedhof‘ umsteigen und nach sechs Querstraßen aussteigen, bei den ,Elysischen Gefilden‘.“

„Genau da sind Sie“, versichert diese.

„Auf den Elysischen Gefilden?“

„Das sind die Elysischen Gefilde.“

Doch der Ort, an dem Blanche ihre Schwester und einen Unterschlupf zu finden hofft, ist alles andere als paradiesisch. Das Viertel ist heruntergekommen, seine Bewohner ungepflegt und ungebildet, es wird gehurt, gesoffen und geprügelt. Stella aber meint in dieser Gemeinschaft etwas zu finden, was ihr die Scheinheiligkeit der Aristokratie verwehrte. Um jeden Preis, so scheint es, schützt sie das Leben, das sie sich mit Stanley aufgebaut hat, erträgt Prügel, Alkohol- und Spielsucht ihres Mannes. Blanche, die eine unerschütterliche Haltung kultureller Überlegenheit aus ihrer sogenannten „besseren Herkunft“ zieht, kann nicht glauben, dass Stella so leben möchte und versucht eindringlich, sie aus diesem Dasein zu befreien. Allein, Stella möchte nicht befreit werden und Blanches Überheblichkeit, ihre Anspruchshaltung und kapriziöse Verklärtheit werden schnell zur Belastung. Stanley, der sich erhofft hatte, dass Blanche den Erlös aus dem Verkauf von Belle Rêve mit ihnen teilt, muss nicht nur einsehen, dass dieser Erlös bereits von der Schuldentilgung verschlungen wurde, sondern zu allem Überfluss auch Blanches andauernden Spott über seine Herkunft und Lebensweise ertragen. Ein Ausweg erscheint möglich als sich zwischen Blanche und Stanleys Freund Mitch (Peter Moltzen) eine Liebesbeziehung mit Aussicht auf eine Ehe andeutet. Doch bald wird auch Mitch klar, dass Blanches Heiligenschein nur ein Diadem aus billigem Strass ist: Gepeinigt von ständigen Ängsten und einem ungestillten Verlangen nach menschlicher Wärme, flüchtet sie sich in den Alkoholrausch und endlose heiße Bäder. Mitch lässt Blanche fallen und Stanley schenkt ihr ein Rückfahrticket zum Geburtstag, um sie loszuwerden. Nicht widerspruchslos zwar, aber rat- und machtlos lässt Stella es geschehen. Ohnehin hat sie gerade andere Sorgen, denn es deutet sich an, dass sie in Kürze ihr erstes Kind gebären wird. Während sie schließlich mit Wehen im Krankenhaus liegt, nutzt Stanley die Gelegenheit, um sich an Blanche zu rächen und ihr einen Zoll für die spannungsreichen Wochen des Zusammenlebens abzuringen. Er vergewaltigt sie und versetzt ihr damit einen Stoß, der sie unwiederbringlich in die Verzweiflung und den Schutz des Wahnsinns abstürzen lässt. Stella, die von dem Verbrechen ihres Mannes nichts erfährt, weiß sich nicht anders zu helfen, als ihre Schwester in die Obhut einer psychiatrischen Klinik zu geben, um ihre kleine Familie zu erhalten, eine Entscheidung, die sie sich schon in dem Moment, in dem sie sie trifft, nicht verzeihen kann. Jetzt greift Stanley zu dem Mantra der Glücklichen: „Es ist doch alles gut.“

Olaf Altmann hat die eigentliche Bühne des Berliner Ensemble mit einer trotzigen rostbraunen Wand zugebaut. Auf einem schräg darin eingelassenen Kasten spielt sich alles ab. Kaum können die Darsteller darin aufrecht stehen. Doch damit nicht genug: Die gebückten Existenzen rutschen unweigerlich immer wieder in die untere Ecke des Kastens, so steil ist das Gefälle. Der Abstieg in Stanleys und Stellas vier Wänden ist unvermeidlich. Cordelia Wege, die als Blanche – wie deren Name verheißt im weißen Kleid, einem Brautkleid ähnlich (Kostüme: Nehle Balkhausen) – gleich einer Lichtgestalt zu Beginn der Aufführung am oberen Ende der Bühne erscheint, sieht am Ende der zweistündigen Spieldauer arg ramponiert aus. Von dem grauen, verschwitzten Unterkleid, das ihr bleibt, versucht Blanche, mit allerlei falschem Blingbling abzulenken. Und so, zerzaust, durchnässt, blutverschmiert, aber über und über mit Plastikperlen und Strass behangen, wagt sie einen letzten Versuch, Mitch für sich zu gewinnen. Cordelia Wege kehrt in ihrem hochenergetischen Spiel das zunächst zerbrechliche und schlussendlich zertrümmerte Innere Blaches konsequent nach außen und lässt keinen Zweifel daran, dass die Sehnsucht nach dem alten Ansehen, dem längst verlorenen Pomp ihrer Herkunft, für Blanche immerwährend – eben die Endstation – ist. Neben ihr erringt Sina Martens als Stella die eigentliche Hauptrolle durch ihr vielschichtiges Spiel und ihre präzise, sensible Textinterpretation. Sie zeigt, wie facettenreich und interessant Stella im Vergleich zu Blanche ist, wie reflektiert und entwicklungsfähig. Wenngleich sie wie alle anderen Figuren nicht mehr Herrin ihres Schicksals ist, bezwingt sie es doch durch ihren mutigen Versuch, es ohne Nostalgie und Naivität zu erkennen und anzunehmen. Andreas Döhler gibt als Stanley ihren ebenbürtigen Bühnenpartner, der, immer wieder übermannt von seinen Affekten, doch eigentlich nach dem Guten strebt und es beschwört: „Es ist doch alles gut.“

Michael Thalheimer und sein Ensemble übersetzen die Symbolik des dramatischen Textes in erinnernswerte Bilder und machen den Sog der hoffnungsgefärbten Abwärtsspirale spürbar. Sie zeichnen die melancholische Romantik einer Arbeiterklasse nach, die den hehren Idealen einer Blanche DuBois – Bildung, Ästhetik und Moral – eine pragmatische Absage erteilt.

Magdalena Sporkmann

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