Eine ganze Welt erzählen / Das Prinzip Landstraße

// Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten von Peter Handke //

„Kommen lassen erst einmal die Szenerie: Und da kommt sie, da erscheint sie, da fliegt sie mich an, da erstreckt sie sich, die Landstraße, vorderhand leer. Und indem ich mir das laut vorerzähle, ist die Straße auch schon bevölkert mit mir, der ICH am Rand der Straße daherschlendere, mit ausgreifenden, epischen Schritten, vorderhand allein.“ Dem Gestus dieses Ich-Erzählers folgend entrollt sich über die Bühne eine Straße, geht ein Himmel auf, bricht eine marode Bushaltestelle aus den Bühnenbrettern hervor, wie von Zauberhand. Und doch ist es keine Zauberei, sondern schlicht die Macht des Wortes: Das Erzählte verfestigt sich zur erzählten Wirklichkeit.

Peter Handkes neues Stück Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten (2015) handelt vom Erzählen selbst und es handelt, natürlich, von der Sprache. In einer Koproduktion mit dem Burgtheater Wien ist Claus Peymann eine kongeniale Inszenierung dieses bemerkenswerten Textes gelungen. Die Uraufführung feierte am 1. Mai 2016 im Berliner Ensemble Deutschland-Premiere.

Der Erzähler erschafft sich seine Szenerie, die Landstraße. An dieser Landstraße fühlt er sich „am Platz, und vielleicht mehr denn je, und vielleicht mehr als sonstwo in der Welt.“ Denn die Landstraße ist der „letzte freie Weg in die Welt, der letzte nichtverstaatlichte, nichtvergesellschaftete, nichtgeographierte, nichtgeologisierte, nichtbotanisierte, nichtgegooogelte, nichtöffentliche und nichtprivate Weg auf Erden.“ Während er auf ihr mit „ausgreifenden epischen Schritten“ geht, erobert sich der Ich-Erzähler durch seine poetische Sprache die Welt, findet den „freien“, will heißen: unverstellten, authentischen Zugang zur Welt und den Menschen. Alsbald aber kommen die sogenannten „Unschuldigen“ des Weges. Sie kommen „wie gerufen“ : Vielleicht ist unter ihnen die „Unbekannte von der Landstraße“, die Schöne, „die erhoffte, seit jeher ersehnte“? Statt jedoch eine Verbündete zu finden, muss der Erzähler die Landstraße, seinen „letze(n) freie(n) Weg in die Welt“ verteidigen, denn die Unschuldigen drohen diesen nahezu heiligen Ort zu entweihen.

Unschuldig sind sie, weil sie unbedacht handeln, ohne Bedacht sprechen. Sie nehmen keine Haltung an, meinen nicht was sie sagen, ihre Rede ist nur oberflächliches Gespreche. Die Unschuldigen geben sich immer bestens informiert, telefonieren pausenlos und treten doch nie wirklich in Kontakt mit der Welt und miteinander, weil ihr Austausch hohl und oberflächlich bleibt, weil sie die Sprache nur benutzen, anstatt sich ihrer wahrhaftigen Materialität bewusst zu werden. Die Unschuldigen können sich gar nicht schuldig machen, weil sie weder andere noch sich selbst oder die Welt jemals in ihrem Wesen berühren. Ihr seelenloser Alltagssprech droht die Poesie der Landstraße zu zertrümmern, indem er sie mit Allgemeinplätzen pflastert. Der Ich-Erzähler beschimpft die Unschuldigen herzhaft: „Sprechblasenkrebse!“, „Rundinformierte!“, „Freiheitsliebende!“, „Horizonträuber!“, „Ahnungslose!“

Scheinbar höchst individuell (Kostüme: Margit Koppendorfer) kommen die Unschuldigen doch immer in der Masse einher. Sie unterscheiden sich in ihrem Kommunikationswahn und dem pausenlosen Ausschwitzen unbegründeter Meinungen, der exhibitionistischen Äußerung ihrer Befindlichkeiten kein bisschen. Peymann lässt den Tross, plappernd, diskutierend und raumgreifend über die Bühne – die Landstraße – poltern. Mit aller Kraft und unter Aufbietung jeglicher Stimmlagen versucht der Ich-Erzähler die Unschuldigen von der Straße zu vertreiben. Doch wie der Zauberlehrling wird er die Geister, die er rief nicht wieder los, denn die Landstraße ist nun einmal „nichtprivat“. Doch ohnehin bleibt sie seltsam unberührt von der Meute: Deren Hinterlassenschaften verdaut die Landstraße genauso wie die Blüten der Bäume, die im Frühjahr auf sie herabrieseln, wie die glutheiße Sonne, die ihren Asphalt im Sommer aufweicht, wie die Blätter und den Staub, die die Herbststürme über sie hinwegfegen und den Frost, der sie im Winter überzieht.

Die zurückhaltende und doch umso wirkungsvollere Gestaltung der Bühne (Karl-Ernst Herrmann) erlaubt es dem Zuschauer mit dem Ich-Erzähler die Jahreszeiten auf der Landstraße zu durchwandern und die Landstraße schließlich wie ein organisch Wachsendes „Prinzip“ zu begreifen. Die Bühne ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Bühne für die Szenerien, die erzählt werden. Die Beleuchtung entwirft bemerkenswert authentische Stimmungsbilder: Wenn der Erzähler im Mondlicht träumt, wird es optisch still; wenn der warme Sommersonnenschein verblasst und dem fahlen Herbstlicht weicht, fröstelt man. Der Zauber dieser Illusion wird immer wieder gebrochen durch die Reflexionen des Dichters über die Sprache und das Theater durch seinen Erzähler. Christopher Nell gibt in der Rolle dieses Ich-Erzählers den personifizierten furor poeticus.

In Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße darf man – bestens unterhalten und mit anhaltendem optischen Genuss – über Sprache, das Theater und unser Verhältnis zur Welt und Wirklichkeit nachdenken.

Magdalena Sporkmann

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