Kleist, einer von uns?

// Wenn ihr euch totschlagt ist es ein Versehen von Oliver Bukowski //

Wenn ihr euch totschlagt ist es ein Versehen lautet der Titel des bemerkenswerten Schauspiels von Oliver Bukowski in Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, welches seit dem 3. September 2011 im Hamburger Schauspielhaus zur Beschäftigung mit Heinrich von Kleist einlädt. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Künstlerbiografie, vielmehr wird betont, dass ein Porträt eines modernen Menschen geschaffen wird, nach Motiven des Heinrich von Kleist.

Um die Hauptfigur von der historischen Persönlichkeit zu lösen, präsentiert sich ein Bernd Getskard dem Zuschauer in einer Situation, die durchaus dem Leben Heinrich von Kleists entnommen sein könnte: Der angehende Schriftsteller kämpft um einen eigenen Stil, dann um Aufmerksamkeit auf dem literarischen Markt und schließlich um Fassung bei der ersten – weniger erfolgreichen – Aufführung eines eigenen Stückes, des Zerbrochenen Kruges. Dieser Werdegang der Selbstbehauptung, die Durchsetzung des eigenen Schaffens, ist begleitet von heftigen seelischen Höhenflügen und immer neuen Abstürzen. Diagnose: Getskard sei manisch depressiv. Dieser Stempel erleichtert seiner Freundin Claudi und dem Freund / Arzt / Arbeitgeber Wiepert, mit seiner unebenen Persönlichkeit umzugehen; man weiß nun, wen man vor sich hat, einen Kranken. Claudi und Wiepert vertreten das soziale Umfeld Kleists. Von ihnen erfährt der Zuschauer vermeintlich einiges über Getskard, entlarvt diese Zuschreibungen jedoch bald als reine Vorurteile, denn jener selbst macht sich völlig frei von jeglichen festen Charakterzügen. Einzig seine Besessenheit vom Denken und Schreiben verteidigt er, wenngleich er sich bewusst ist, dass diese ihn zu einem Sonderling in der Gesellschaft macht. In dieser selbstgeschaffenen Isolation dringen auch Claudi – trotz ihrer blinden Liebe – und Wiepert trotz seiner freundschaftlich-väterlichen (Für-)Sorge nie zu ihm vor. Getskard entgleitet auch dem Zuschauer immer wieder, so wie Kleist seinem Leser stets entwischt, sobald dieser glaubt, aus seinem Werk Rückschlüsse auf dessen Leben ziehen zu können. Ein Punkt, den Bukowski als fachlich offenkundig herausstellt. Was dem ratlosen Publikum angesichts dieser höchst widersprüchlichen Persönlichkeit bleibt, ist das Klischee vom „Furor Poeticus“ oder schlicht der modernen Depression, wie Bukowski vorschlägt, der die „Volkskrankheit Nr. 1“ darin begründet sieht, dass das befreite Individuum unter dem Druck der Sinnsuche und der Suche nach dem Ich zusammenbricht. Trotz seiner Betonung der Aktualität und Allgemeingültigkeit der Problematik, ist der Zuschauer tatsächlich eher mit einer künstlerischen Selbstbehauptung konfrontiert; Getskard ist eben doch in erster Linie Schriftsteller und seine Selbstzweifel ergeben sich aus der literarischen Arbeit. Nichtsdestotrotz ein überzeugendes Schauspiel, welches beim Zuschauer um Offenheit wirbt, indem es ihn zum Abstoßen seiner Vorurteile zwingt, zur Begegnung mit dem Menschen, welcher nie linear angelegt ist. Bukowski bietet uns an, diese Extreme zuzulassen, ohne ihnen gleich die Marke des Pathologischen einzubrennnen.

Gleichwohl ist Getskard eine tragische Figur, der Bukowski schwarze Situationskomik als Schutzschild verliehen hat, welchen auch das Publikum dankbar annimmt. Es folgt Getskard durch das Wogen von Glückseligkeit, Leichtigkeit, Lethargie und Verzweiflung. Bernd Getskards Wahrnehmung changiert zwischen der glühenden Wahrheitssuche und dem nüchternen Nachdenken über die Frage nach dem Genie, seine Beziehungen zu Mitmenschen und sein Ich: Wie ein Mantra wiederholt er die Definition des Wörterbuches für „Genie“, doch sie durchdringt ihn nicht, zu entscheiden, ob er ihr entspricht, überlässt er den anderen. Wiepert erklärt zumindest die Definition des manisch Depressiven für absolut zutreffend. Er interessiert sich nicht für Getskards „Hirngespinste“, dessen „Wahrheiten“ von ihm abtropfen wie die Erbsen, welche der „Kranke“ ihm im Affekt aufs Hemd spie. So traut Getskard ihm auch nicht viel Geisteskraft zu, doch er vertraut ihm, nimmt seine Unterstützung – finanzielle wie freundschaftliche – dankbar an. Claudia hingegen sucht Getskard in sein Gedankenuniversum einzubeziehen; sie soll als seine Freundin und Frau an seiner Begeisterung teilhaben. Diese allerdings zeigt sich genervt von den Gedankenexperimenten, welche sie schnellstmöglich zu absolvieren versucht, um dann ein Leben, auch ein sexuelles, neben diesen Lehrstunden mit Getskard zu führen. Sie ist eifersüchtig auf die „schrecklichen Bücher“. Immerhin ist es aber sie, die sich vehement gegen Wieperts Diagnose wehrt und erklärt, Getskard leide keineswegs unter einer Depression, sondern benötige vielmehr diesen „Geisteszustand“, um arbeiten zu können. Getskard wird sich der uneingeschränkten Liebe und Treue, aber auch Unterordnung seiner Claudi bewusst, jedoch auch seiner Unfähigkeit, mit ihr ein gleichberechtigtes Zusammenleben zu führen. Er stellt gar fest, nicht für das Leben unter den Menschen im Allgemeinen gemacht zu sein, weil man in Gesellschaft nie wahrhaftig sein könne und die Wahrheit schließlich jenes höchste Gut ist, dem er Zeit seines Lebens nachspürt.

Einzig Requisiten unterstützen die Handlung, kein Bühnenbild sonst lenkt vom Schauspiel ab. Immerhin, so Bukowski, kann Kleist nur buchstäblich vergegenwärtigt werden. Und wahrlich, die Akteure füllen die Bühne ganz aus: Die klischeehafte Barbie-Claudie (Lydia Stäubli) mit dem liebenden Herzen, der bodenständige Kapitalist Wiepert (Marco Albrecht) und, ihnen voran, der Furor, der Dichter, der kompromisslose Getskard (Stefan Haschke). Gleichermaßen gelingt ihnen die Interpretation des Vokabulars von Kleist und dem des heutigen Rezipienten. Einzig Marco Albrecht lässt einiges in einem rasanten Monolog untergehen. Sprachduktus und Spiel schlagen die Brücke zwischen Kleist und uns, lassen ihn uns näher erscheinen, menschlicher, brüderlicher. Als wirksam zeigt sich im Übrigen auch die Diskussion der Figuren über Theater, welche sich an der Vorstellung Claudis und Wieperts entzündet, in der Theater zur Unterhaltung mit intellektuellem Anspruch verkommt.
Ein durch und durch modernes Stück, wenngleich es uns eher das Klischee der Künstlerpersönlichkeit, nicht die „moderne Depression“ beleuchtet und entlädt.

Magdalena Sporkmann

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