// Im Herzen der Gewalt von Édouard Louis //
Erst kurz vorm Schluss wird die brutale Tat gezeigt: Ein Mann würgt einen anderen Mann mit einem Schal, fesselt und vergewaltigt ihn dann. Bis der Zuschauer Augenzeuge dieses Verbrechens wird, hat er jedoch bereits knapp zwei Stunden lang verschiedenen Erzählungen der Tat zugehört. Nichtsdestoweniger sind die Minuten, in denen sie dann wirklich auf der Bühne stattfindet, eine Qual. Im Herzen der Gewalt lautet der treffende Titel dieser Bühnenadaption des gleichnamigen autobiografischen Romans von Édouard Louis. Das Stück feierte in einer Inszenierung von Thomas Ostermeier am 3. Juni 2018 seine deutschsprachige Erstaufführung an der Schaubühne Berlin.
Édouard stammt aus einer Arbeiterfamilie in Nordfrankreich. Er ist der geistigen Enge und Homophobie seiner Heimat entflohen, um in Paris die Philosophen zu studieren und seine Homosexualität endlich ausleben zu können. Von seiner Familie in der Provinz fühlt er sich entfremdet und so streift er an einem Weihnachtsabend allein durch die Straßen der Hauptstadt. Dort begegnet ihm Reda, Sohn algerischer Immigranten. Die Männer kommen ins Gespräch, flirten und gehen schließlich gemeinsam in Édouards Wohnung. Dort verbringen sie eine Liebesnacht miteinander. Am darauffolgenden Morgen muss Édouard feststellen, dass Reda ihn bestohlen hat. Als er diesen mit seiner Entdeckung konfrontiert, wird Reda gewalttätig, würgt, fesselt und vergewaltigt Édouard.
Für Édouard wird die Bewältigung der Tat zu einem Behördenmarathon, der tief in unserer Gesellschaft verwurzelte Homophobie und Rassismus zutage treten lässt. Erst als ihm die Anstrengung gelingt, seine Erfahrungen jenseits des Opfer-Täter-Dualismus philosophisch zu durchdringen, scheint eine Heilung seiner Verletzungen möglich.
Édouards Reflexionen beziehen sich schon bald nicht mehr auf den reinen Tathergang, denn der scheint ohnehin, je öfter und detaillierter er ihn Polizei, Ärzten und der eignen Familie schildert, immer weniger greifbar. Gerade die vermeintliche Eindeutigkeit der Geschehnisse ist es, die Édouard misstrauisch werden lässt: Ist es nicht so, dass mit jeder Nachfrage, jedem Kommentar sowie der schieren Auswahl des Erzählenswerten eine Deutung der Vorkommnisse vorgenommen wird? Statt mit der Tat beschäftigt er sich also mit deren Hintergründen. Diese Reflexionen enthüllen ein komplexes Netzwerk, aus dem heraus die Liebesnacht ihre fatale Wendung nehmen konnte.
Édouard erkennt, dass er und Reda aus derselben sozialen Klasse stammen, jedoch unterschiedliche Strategien entwickelt haben, mit den daraus entspringenden Zwängen umzugehen. Reda, der aus einer stark homophoben Kultur stammt, kann seine Homosexualität offenbar nur ausleben, wenn sie ein Vorwand zur Gewalt ist. Die Schranken der Armut hingegen konnte er aufgrund mangelnder Bildung nie überwinden. Auch Édouard kommt aus einem Milieu, in dem fehlende Bildung und relative Armut mit einer zementierten Intoleranz gegenüber Homosexualität einhergehen. Er resümiert: Reda und er selbst stammen aus derselben sozialen Klasse. Durch seine Bildungschance aber ist Édouard zum Bourgeois aufgestiegen und damit zum „Feind“ der Arbeiterklasse und Redas. Seine Erfahrungen in der Kindheit und Jugend aber lassen ihn Verständnis für Redas Handeln aufbringen, das er nicht als vorsätzlich und damit bösartig ansieht, sondern als spontanes Handeln aus einer tiefen (finanziellen und seelischen) Not heraus.
Das seelische Dilemma, das sich für Édouard aus dieser Erkenntnis und seiner gleichzeitigen Traumatisierung durch das Verbrechen ergibt, stößt in seinem Umfeld auf Unverständnis.
Als er der Polizei von seinen Erlebnissen erzählt, scheint dem Beamten vor allem die Information, dass Reda optisch dem „maghrebinischen Typus“ entspreche, aussagekräftig. Die Ärzte und Pfleger, an die sich Édouard wendet, behandeln ihn nur widerwillig: Ein Schwuler, der von seinem Liebhaber vergewaltigt wird? – Dafür haben sie nicht viel Mitgefühl. Selbst Édouards Schwester Clara lässt anklingen, dass sie die Schuld für das Geschehene bei Édouard selbst sieht. Warum habe er auch einen Wildfremden mit zu sich nach Hause genommen? Warum führe er sich auch auf, als sei er besser als alle anderen? Dass Édouard obendrein Verständnis für Redas Tat hat, bagatellisiert diese in Claras Augen nur weiter.
Thomas Ostermeiers Inszenierung Im Herzen der Gewalt hat von einer engen Zusammenarbeit mit dem Autor Édouard Louis profitiert. So verhalf dieser Hauptdarsteller Laurenz Laufenberg in der Rolle Édouards zu einer verblüffenden Mimikry seines Alter Egos. Alina Stiegler überzeugt in der Rolle seiner Schwester Clara durch ihr differenziertes Spiel, das die von Resignation erstickten Sehnsüchte eines Arbeiterkindes aus der Provinz aufscheinen lässt. Renato Schuch als Reda verführt Édouard auf der Bühne mit einer Mischung aus jungenhaftem Spieltrieb, herausforderndem Charme und überschießender Energie. So kreiert er die Ambivalenz der Figur, die es nicht nur Édouard schwer macht zu glauben, Reda sei ein eiskalt berechnender Verbrecher. Auch dem Publikum schwindet die Sympathie für Reda nach seiner Tat nicht.
Sensibel für die Brisanz und Intimität des Themas inszeniert Ostermeier Im Herzen der Gewalt als eine schleifenförmige Rekonstruktion der traumatischen Nacht, in der nacheinander Ärzte, Polizisten, Clara und Édouard selbst, dem seine eigene Geschichte so immer mehr entgleitet, zu Wort kommen. Wirkungsvoll werden die Vorurteile, die die einzelnen Erzählungen färben, aufgedeckt. Umso erschreckender, dass sich Bühnen- und Kostümbildnerin Nina Wetzel plattester Stereotype bedient, wenn sie Édouard in einen rosa Pullover, Reda in einen weißen Polyester-Jogginganzug und Clara in ein zu tief dekolletiertes Mieder mit Leo-Print steckt. Erstaunlich – vertritt sie doch mit der schlichten und zweckmäßigen Bühnengestaltung, die nur durch wenige Requisiten und Video-Projektionen von Close-Ups der Darsteller belebt wird, eine eher nüchterne Ästhetik.
Thomas Ostermeiers Inszenierung erschließt dem Publikum Édouard Louis’ literarisierte Erfahrung vielschichtig und eindringlich. Die Stimmen aus dem Herzen unserer Gesellschaft entlarven ihre eigenen tiefsitzenden rassistischen und homophoben Vorurteile selbst. Dieser intelligente Schachzug, der eine direkte moralische und intellektuelle Anklage umgeht, wirkt umso stärker als Kritik.
Magdalena Sporkmann
Foto: Arno Declair