// Ich nannte ihn Krawatte von Milena Michiko Flašar //
Im Maxim Gorki Theater Berlin ist aktuell das auf der gleichnamigen Erzählung von Milena Michiko Flašar basierende Stück Ich nannte ihn Krawatte zu sehen. Die Premiere fand am 22. Mai 2013 statt. Diese Inszenierung von Jana Milena Polasek ist rundum gelungen und es lohnt sich sehr, eine der wenigen Vorstellungen zu besuchen!
Flašar erzählt die Geschichte zweier Aussteiger aus der japanischen Leistungsgesellschaft. Die beiden Männer – Taguchi Hiro (Matti Krause), Anfang zwanzig, und Ohara Tetsu (Thomas Lawinky), achtundfünfzig Jahre alt – treffen sich tagtäglich auf einer Parkbank und tauschen sich über ihre Vergangenheit und über mögliche Wege in die Zukunft aus. Taguchi Hiro verbrachte zwei Jahre in seinem Zimmer. Er ist einer der vielen Menschen in Japan, die unter dem soziologischen Phänomen des “Hikikomori“ zusammengefasst werden: Sie verweigern sich weitgehend dem Kontakt zur Gesellschaft und ziehen sich in einen Raum oder eine Wohnung zurück. Doch auch Ohara Tetsu hat einen Rückzug aus der Gesellschaft gewählt, wenngleich einen anderen: Er lebt in symbiotisch enger Beziehung mit seiner Frau (Gina Henkel) zusammen. Als er aus seiner Arbeitsstelle entlassen wird, weil er deren Leistungsanforderungen als alternder Mensch nicht mehr gerecht wurde, verschweigt er dies seiner Frau, um das eingespielte und funktionierende Gleichgewicht ihrer Beziehung nicht zu stören. Jeden Morgen verlässt er weiterhin wie gewohnt das Haus und verbringt die Stunden, die sonst seine Arbeitszeit umschloss, mit Taguchi Hiro auf einer Parkbank. In den Erzählungen der beiden Männer wird die harsche Kritik der Autorin an der Leistungsgesellschaft Japans deutlich.
Da die beiden Herren von deutschen Schauspielern verkörpert werden und auch der Gestus, den sie ihren Figuren verleihen, eher an Europa denn an Japan denken lässt, wird deutlich: Regisseurin Polasek weitet die Gesellschaftskritik Flašars aus und signalisiert dem Zuschauer, dass er selbst inmitten der Problematik lebt. Dazu trägt auch die intime Atmosphäre der Spielstätte bei: Die Aufführungen finden im den meisten Zuschauern bisher unbekannten Brinkmannzimmer statt, das nur für etwa siebzig Personen Platz bietet. Die Unterhaltung der beiden Männer geht dem Zuschauer damit nicht nur räumlich besonders nahe. Es ist eine große Stärke der Inszenierung, dass diese Nähe und Emotionalität, die sich langsam entwickeln, nicht theatralisch ausgeschlachtet werden, sondern aus Andeutungen leben. Diese allerdings werden mit wirkungsvollen und originellen Mitteln gemacht. Die überdimensionale Papiertüte (Kostüme: Marina Stefan), die eine junge Frau verdeckt, hat sich fest ins Bildgedächtnis eingegraben. Die Brutalität der Ausgrenzung und Folter dieses Mädchens, das “anders“ als die anderen war, findet einen genialen Ausdruck in dem Einstechen der auf die Papiertüte gemalten Augen und dem Aufreißen ihres “Verstecks“. Ein anderer Regie-Einfall mag ebenfalls besonders eindrücklich gewesen sein: Matti Krause als Taguchi Hiro erklimmt urplötzlich die an der Wand hinauf laufenden Heizungsrohre und “klebt“ eine gefühlte Ewigkeit zusammengekauert und bewegungslos kurz unterhalb der Zimmerdecke. Unweigerlich denkt der belesene Zuschauer dabei an Gregor Samsa, Kafkas Protagonisten aus der Verwandlung. Gregor Samsa, der sich eines Morgens von einem Angestellten in einen Käfer verwandelt, teilt das Schicksal der aus der Leistungsgesellschaft Gefallenen. Idee und Umsetzung dieser Parallele sind fabelhaft gelungen!
Das Bühnenbild (Stefanie Grau) ist ebenso bedacht wie fantasievoll gewählt: Jeder der beiden Männer sitzt auf einem Stuhl, hinter ihnen stehen zwei Spiegel. Am Bühnenrand sitzt auf einem Ast eine (echte!) Eule. Durch die Fenster des Brinkmannzimmers fällt (künstliches) Sonnenlicht. Zugegebenermaßen ist es schade und unverständlich, dass man die Mühe gescheut hat, eine Bank statt zwei Stühlen zu besorgen. Die Bank taucht nicht nur im Text explizit immer wieder auf, sie besitzt auch eine nicht zu vernachlässigende und offensichtliche Bedeutung: Die Bank ist ein Ort, an dem sich Fremde treffen, ins Gespräch kommen. Sie ist ein verbindendes Element zwischen Fremden. Die Bank zeigt bei Milena Flašar, dass die Geschichten und die Bewältigungsstrategien der beiden Männer zwar unterschiedlich, die Konsequenzen und Ursachen ihres Handelns jedoch dieselben sind: Der Rückzug aus der Leistungsgesellschaft, weil man ihrem unmenschlichen Anspruch nicht mehr genügen kann bzw. möchte. Indem die Männer einander also berichten, bespiegeln sie sich selbst und den anderen – die Spiegel sind ein sinnfälliges Symbol dieses Vorgangs. Die Eule nun mag in allererster Linie als kleine Sensation vom Publikum wahrgenommen worden sein. Nur wenige haben darin wahrscheinlich ein Bild für die Zeit der Zurückgezogenheit des Hikikomori gesehen, was auch der Tatsache geschuldet ist, dass dieses japanische Gesellschaftsphänomen hierzulande wenig bekannt sein dürfte. Atmosphärisch hat die stille, fast unbewegliche Eule jedoch stark dazu beigetragen, dass der Zuschauer die Bedrückung der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Protagonisten nachempfinden konnte.
Schauspielerisch fällt Matti Krause in der Rolle des Taguchi Hiro positiv auf. Ihm gelingt es, in der Figur tiefe Emotionalität und zugleich deren Unterdrückung spürbar zu machen. Thomas Lawinky gibt den alternden Ohara Tetsu als resignierenden und doch auch hoffenden Mann, den die Angst vor dem Zerbrechen seines Rückzugsortes – der Beziehung mit seiner Frau – daran hindert, mit seinem “Scheitern“ offen umzugehen. Gina Henkel spielt sowohl Oharas Frau als auch die ehemalige Schulfreundin Taguchis und erstaunt in ihrer Interpretation durch eine beängstigende Mischung aus andressierter, höflicher Fröhlichkeit und kindlicher Naivität, mit der sie auf das grausame Schicksal ihrer beiden Figuren reagiert.
Diese kleine Inszenierung ist eine Warnung vor den Idealen der Leistungsgesellschaft: Der Mensch wird von seinem eigenen Werk, dem “System“ versklavt und jeglicher menschlicher Eigenschaften beraubt, um Stück für Stück zur Maschine zu werden. Flašar und Polasek zeigen auf eindringliche Weise einige Opfer dieses Systems. Die Kritik an der kapitalistischen, leistungsorientierten Industrie-Gesellschaft ist nicht neu – spätestens Adorno und Horkheimer haben mit ihrer Dialektik der Aufklärung in dieser Hinsicht bereits ein deutliches Zeichen gesetzt – dennoch ist die Kritik und das immer wieder neue Ausrufen der Warnung vor den Werten der Leistungsgesellschaft angebracht und notwendig. Immerhin leben immer größere Massen weltweit nach eben diesen Werten und die meisten der Zuschauer werden vermutlich den Druck, der auf Ihnen lastet täglich spüren.
Magdalena Sporkmann