„Komm, steh wieder auf, atme. Das Leben wartet mit tausend Laternen und tausend offenen Türen,“ hört er den Anderen sagen. Beckmann steht inmitten tausend bunter Lichter auf der Bühne, singt „Feeling Good“: „It’s a new dawn / It’s a new day / It’s a new life for me.”
Kathrin Wehlisch in der Doppelrolle Beckmann/der Andere singt die hoffnungsvollen, bittersüßen Liedzeilen in den Raum und eröffnet damit die Inszenierung von Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür am Berliner Ensemble in der Regie von Michael Thalheimer. Die Premiere fand am 25. März 2022 statt. Einen Monat nach der Invasion russischer Truppen in die Ukraine bietet diese abstrakte wie poetische Inszenierung nicht nur einen Echoraum für die aktuelle Weltlage, sondern formuliert auch unsere Fragen angesichts vergangener und gegenwärtiger Gräuel: Wer trägt die Verantwortung? Wie gehen wir mit Schuld um? Wie können wir mit individuellen und gesellschaftlichen Traumata als Gemeinschaft weiterleben? Selten fühlt sich Theater so beklemmend real an.
Zuerst schmettert, ja röhrt Wehlisch den Song, dann bricht ihr die Stimme, sie haucht nur noch. Zuletzt schreit sie die Töne und Wörter heraus. Sie legt in diesen Song eine Ahnung von der Enttäuschung, der Wut und Verzweiflung, die ihren Beckmann in den nächsten eineinhalb Stunden ereilen werden.
Beckmann ist an diesem Tag nach drei Jahren Krieg heimgekehrt nach Hamburg. Er ist erst 25 Jahre alt, aber da wartet kein Leben auf ihn – weder das alte, noch ein neues. Im Ehebett neben seiner Frau liegt ein anderer. So steht Beckmann wenige Stunden nach seiner Heimkehr wieder draußen, vor der Tür. Die tausend Laternen scheinen einzig die Straße an die Elbe hinunter zu beleuchten. Er geht hinab, ins Wasser, will sich ertränken. Doch nicht einmal die Elbe will ihn haben, wirft ihn in Blankenese wieder auf den Strand. Er soll es wenigstens erst einmal ernsthaft mit dem Leben versuchen. Das flüstert ihm auch der Andere ein, eine Stimme der Hoffnung, der Zuversicht. Also rappelt sich Beckmann nochmal auf.
Er lernt ein Mädchen kennen und dieses nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Sie legt ihm den Mantel ihres im Krieg verschollenen Mannes um, doch just in diesem Moment kehrt dieser nach Hause zurück, schwer verletzt – ein Einbeiniger. Er erkennt Beckmann als Kriegskameraden und macht ihn für seine Verletzungen verantwortlich. Schuld und Scham treiben Beckmann auf die Straße. Er erinnert sich an einen Einsatz, für den ihm von seinem Oberst die Verantwortung übertragen worden war, und bei dem er elf Mann verloren hatte. Der Gedanke an diese Männer sowie ihre Hinterbliebenen lässt Beckmann nicht mehr schlafen: „Ich will endlich mal wieder pennen!“ Beckmann beschließt, zu besagtem Oberst zu gehen und diesem die Verantwortung, an der er so schwer trägt, zurückzugeben. – Doch der Oberst lacht Beckmann nur aus. Beim Kabarett solle er sich mit der Nummer bewerben. Wieder steht Beckmann draußen vor der Tür, unverstanden, abgewiesen, verhöhnt. Doch der Andere treibt ihn an. Also geht Beckmann zum Kabarett, um dort Arbeit zu finden, aber seine Erfahrung beschränkt sich auf den Schützengraben und seine „Nummer“ sei zu plakativ, befindet der Kabarettdirektor. Er solle noch ein paar Jährchen warten. – „Warten?“, schreit Beckmann auf: „Ich hab doch Hunger! Ich muss doch arbeiten!“ Er beschließt, bei seinen Eltern Unterschlupf zu finden, doch diese haben sich in der Zwischenzeit selbst „entnazifiziert“ und er kann sie nur noch auf dem Friedhof besuchen. Frau Kramer, die jetzt in Beckmanns Elternhaus wohnt, tut es leid um das Gas, das seine Eltern mit ihrem Suizid verschwendet haben: „Davon hätte man einen ganzen Monat kochen können.“
Bettina Hoppe in der Rolle der Frau Kramer wirkt penetrant gesund, fit, modern in ihren Leggins und ihrem Gymnastikanzug. Die Front der Optimistinnen (oder Opportunistinnen) ist im Gegensatz zu Beckmann geradezu unerträglich fröhlich. So trägt Philine Schmölzer in der Rolle des Mädchens ein unschuldiges weißes Kleid mit weißen Socken und ergötzt sich überdreht an ihrem Spitznamen für Beckmann: „Fisch!“ Die Elbe (Josefin Platt/Constanze Becker) hingegen ist die Ruhe selbst. Nehle Balkhausen (Kostüm) hat sie in Home Wear gewandet und genauso gemütlich gibt sie sich auch. Veit Schubert als Oberst präsentiert sich nicht minder bequem, aber in hochdekorierter Uniform als selbstgerechter, kaltblütiger Schnösel. Und schließlich zeigt Tilo Nest den Kabarettdirektor mit Tüllrock und Rollschuhen als ebenfalls vollends von sich überzeugten Weltmann. Er zieht, losgelöst von allem Irdischen, über Zukunft und Jugend sinnierend, seine Bahnen und schwafelt von der Kunst.
Ganz und gar irdisch sind eigentlich nur Beckmann und der Einbeinige. Sie bilden auch optisch einen starken Kontrast zu den anderen Figuren. Oliver Kraushaar als der Einbeinige bietet als breitschultriger Hüne in seiner blutdurchtränkten Uniform einen furchteinflößenden Anblick. Doch er geht an Krücken und sein Gesicht ist verrußt; eine gestrige Gestalt. Kathrin Wehlisch in der Rolle des Beckmann trägt einen grauen Schlabberpulli, Knieschützer und eine ulkige Brille aus einer Gasmaske. Ihre Haare sind verstrubbelt, sie wirkt staubig und schmutzig, elend, verbraucht.
Woran Beckmann krankt, ist sein Menschsein – seine Trauer, seine Wut, seine Scham und seine Verzweiflung. Doch alle, an die er sich damit wendet, wollen davon nichts wissen. Der Krieg ist vorbei, die dunkle Zeit liegt hinter ihnen: „It’s a new dawn / It’s a new day / It’s a new life / And I’m feeling good“ Nur Beckmann kann die Gräuel des Krieges nicht vergessen und er ist fassungslos, dass es die anderen können: „Und die Menschen gehen an dem Tod vorbei, achtlos, resigniert, blasiert, angeekelt, und gleichgültig, gleichgültig, so gleichgültig!“
Die Gespenster des Krieges verfolgen Beckmann. Durch seine Kriegstraumata ist er aus der Welt gefallen, einer Welt, die nur noch eine verheißungsvolle Zukunft kennt. Der erst 26-jährige Borchert schickte seinen Beckmann 1947 als einen Zeugen des Vergangenen, als mahnende Stimme und Personifikation der Erinnerung an den zweiten Weltkrieg in die deutsche Nachkriegsgesellschaft.
Und wenn wir heute durch Thalheimers Inszenierung an Beckmanns Entsetzen teilhaben, berührt es uns auf ganz neue Weise. Denn heute vermischen sich die Szenen dieses dramatischen Schauspiels mit den Bildern von zerstörten Städten, blutigen Leichen und trauernden, verängstigten Menschen aus der Ukraine. Der Krieg ist wieder ganz nah. Die Barbarei lebt nicht mehr nur in der Erinnerung, sondern bricht jeden Tag in Form von Medienberichten in unseren friedlichen Alltag ein. Wir haben uns nun lange in diesem friedlichen Alltag geübt – obwohl immer irgendwo auf der Welt Krieg war … nur eben nicht vor unserer Tür. Jetzt wird die Fassungslosigkeit darüber, dass es so etwas wie Alltag, Frieden, Seelenruhe nach und neben dem Morden überhaupt geben kann, wieder vorstellbar.
Das Bühnenbild von Olaf Altmann, so einfach in der Idee wie aufwändig in der Realisation, bildet einen abstrakten Raum, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart begegnen. Tausend Glühlampen in Rot, Gelb, Grün, Blau und Weiß hängen von der Decke. Je nach Szene leuchten mal die einen, mal die anderen: grau-grün schimmert so das Wasser der Elbe und rötlich das Zimmer des Mädchens.
Schließlich flackert das Licht, wird immer dunkler. So verlischt auch der kleine Funke Hoffnung in Beckmann. Da begegnet er Gott – Peter Luppa im bodenlangen, federgesäumten Abendkleid – und klagt ihn an: Wie konnte er, der „liebe“ Gott, diesen Krieg, das Morden, die Zerstörung zulassen? Doch Gott spricht sich frei: Die Menschen hätten aufgehört, an ihn zu glauben und seien deshalb zu Barbaren geworden. Gott bleibt – wie auch Peter Luppa in seiner Rolle – blass. Umso raumgreifender sein Kontrahent, der Tod alias Jonathan Kempf. Kempf steckt in einem Fat-Suit, rülpst und frohlockt grobschlächtig angesichts des brummenden Geschäfts mit dem Tod im 20. Jahrhundert. Er ist schließlich der Einzige, der Beckmann seine Tür öffnet. Und Beckmann geht hindurch. Dieses Mal gelingt es ihm. Es wird finster.
Magdalena Sporkmann
Foto: Matthias Horn