Im Riss wird plötzlich alles offensichtlich

// Der Mensch erscheint im Holozän nach Max Frisch //

»Begonnen hat es …«, sagt Ulrich Matthes, und schon fällt der Vorhang wieder. Die neue Spielzeit eröffnet das Deutsche Theater Berlin mit einer poetischen, leisen und doch eindringlichen Inszenierung von Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän. Es ist die erste Regiearbeit, die Thom Luz für das Deutsche Theater realisiert hat und hoffentlich der Anfang einer langen Arbeitsbeziehung. Die Premiere fand am 23. September 2016 statt.

Es heißt, der Mensch sei das einzige Lebewesen, das sich seiner selbst bewusst ist. Dieses Bewusstsein über die eigene Existenz bringt zugleich die Angst vor dem eigenen Ende mit sich. Der Mensch erscheint im Holozän thematisiert anhand einer singulären Geschichte diese Angst des Menschen vor dem unausweichlichen eigenen Verschwinden und seine Versuche, dieser Angst Herr zu werden.

Erzählt wird die Geschichte von Herrn Geiser (Ulrich Matthes), der sich im Alter in ein abgeschiedenes Tal in den Tessiner Bergen zurückgezogen hat. Einmal regnet es dort über Tage so stark, dass die Erde an den Berghängen ins Rutschen gerät, sich Risse im Gestein zeigen und die Straße, der einzige Weg aus dem Tal heraus, verschüttet wird. Die Bewohner des Tals sind also abgeschnitten vom Rest der Welt, und werden in der Furcht, auch ihr Dorf, samt ihrer selbst könne verschüttet werden, zu einer Schicksalsgemeinschaft. Herr Geiser kann seinen täglichen Besorgungen – Gartenarbeit, Einkäufe – nicht mehr nachgehen und zieht sich vor dem Regen in sein Haus zurück. Dort erwecken zunächst wenigstens noch Radio und Fernsehen den Anschein, man sei weiterhin mit der Welt in Kontakt, doch als auch noch der Strom ausfällt, ist Herr Geiser gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Er ist auf sich selbst zurückgeworfen, spürt plötzlich seine Einsamkeit. Angesichts der Katastrophe die vor seiner Haustür wütet, kann er sich existentieller Gedanken und Fragen nicht mehr erwehren. Die Routinen des Alltags sind ausgehebelt und Herr Geiser hat plötzlich Zeit, unendlich viel Zeit. Sie scheint sogar geradezu stehen zu bleiben, wenngleich ihm bewusst ist, dass vielmehr das Gegenteil richtig ist: Unbeirrt von allen Ereignissen, selbst Katastrophen, läuft die Zeit immer weiter. Herr Geiser beginnt zu lesen, doch keine Romane, in denen es ja immer um Beziehungsgeflechte gehe – dafür fehle jetzt (buchstäblich) das sichere Fundament. Stattdessen hält er sich an Sachbücher, denn »Wissen beruhigt.« Lesen allein genügt ihm nicht, Wissenswertes schreibt er sich heraus und heftet die Zettel mit seinen Notizen an die Wohnzimmerwände. Für diese Zettelsammlung muss sogar das Portrait in Öl seiner verstorbenen Frau weichen. – Denn jetzt geht es in Herrn Geisers Leben um Wesentlicheres als Beziehungsgeflechte. Er versucht, das Chaos in der Welt und in sich selbst durch Erinnern des im Laufe seines Lebens verinnerlichten Wissens und die Klassifizierung und Ordnung des neuen Bücherwissens, zu beherrschen. Im Angesicht des eigenen unvermeidlich näher rückenden Endes – sei es durch einen herabrutschenden Berghang oder schlicht das Alter – erkennt Herr Geiser jedoch, dass das Auswählen, Benennen und Hierarchisieren unumstößlicher Fakten (›Wissen‹ genannt) nur ein Ablenkungsmanöver ist: »Die Natur braucht keine Namen. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.« Das eigene Ende ist unvermeidlich, wie das der ganzen Spezies Mensch: »Der Mensch erscheint im Holozän«, liest Herr Geiser im großen Brockhaus, doch schon das »Erscheinen« des Menschen kennzeichnet seine Existenz als eine nur vorübergehende. Genauso wie die Dinosaurier wird auch er eines Tages plötzlich wieder »verschwinden«. Die Naturwissenschaft, mit der der Mensch die Vorgänge auf der Erde und im Kosmos zu begreifen und dadurch letztendlich zu beherrschen sucht, ist Ausdruck eines Herrschaftsbestrebens, das über die Vergänglichkeit unserer Spezies hinwegtäuschen will. Dass einst die Dinosaurier und heute der Mensch die Erde »beherrscht« ist reine Hybris, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass eine sogenannte Naturkatastrophe, wie sie Herr Geiser erlebt, eine Katastrophe eben nur für den Menschen, keinesfalls aber für die Natur bedeutet.

Thom Luz widersteht der Versuchung, sich die starken Bilder aus Max Frischs parabelartiger Erzählung für die Bühne zu eigen zu machen, ohne die Bodenständigkeit von Frischs Literatur an eine abstrakte und intellektualisierte Ästhetik zu verraten. Stattdessen verweist er mit einfachsten Mitteln schlicht auf den Raum, den die Bühne einnimmt. Überall ist Nebel und aus diesem ragen schemenhaft ein Haus auf Stelzen, sowie eine Miniatur dieses Hauses auf. Begrenzt ist der Bühnenraum durch einen Halbkreis aus Klavieren. Die Darsteller bewegen sich – mehr oder weniger nur als Silhouetten sichtbar – durch diesen Raum. Herr Geiser unterscheidet sich von ihnen lediglich durch ein minimal dunkleres Kostüm. In der Figurenaufstellung sowie dem gedoppelten Haus kehrt der Verweischarakter des Singulären, Kleinen auf etwas Allgemeines, Großes wieder. Die Abgeschlossenheit des Raumes, in dem das Stück spielt – das von der Welt abgeschnittene Tal – wird sichtbar in der Materialität, die der Bühnenraum durch den Nebel bekommt und die ihn gegen den Zuschauerraum abgrenzt. Auf erstaunliche und wirkungsvolle Weise gelingt es Thom Luz auch, das Verstreichen der Zeit zu verbildlichen: Ein starker Lichtstrahl wird quer über die Bühne geleitet, indem er von mehreren Spiegeln reflektiert wird. Abwechselnd unterbrechen die Darsteller durch ihren Körper den Lichtstrahl an unterschiedlichen Stellen. Die Lichtgeschwindigkeit steht mit ihrer unvorstellbaren Dynamik im Gegensatz zu der Statik des Lichtstrahls. Das Unterbrechen und scheinbare Anhalten dieser Dynamik entspricht dem von Herrn Geiser empfundenen Zeitstillstand. Der fortlaufende Zeitfluss aber begegnet dem Publikum in der Musik, die diese Inszenierung durchzieht und auch trägt. Die umstehenden Klaviere werden fast durchgängig bespielt und oft wird das Spiel vom Gesang des Ensembles begleitet. Meist plätschern die Melodien dahin, wie die unmerklich vergehende Zeit. Wenngleich sie »nur« plätschern, ist die gute Qualität dieser musikalischen Untermalung zu betonen. Selten fügt sich die in einem Schauspiel aufgeführte Musik so harmonisch und bereichernd in die Inszenierung ein, wie hier.

Insgesamt ist es eine zurückhaltende Inszenierung. Das Spiel der Darsteller ist leise und sogar Ulrich Matthes sticht nicht mit der ihm eigenen Präsenz hervor. Alles steht im Dienst der Botschaft und im Vertrauen auf die schlichte Form und den reichen Inhalt von Max Frischs Sprache, die hier genug Raum bekommt, um sich zu entfalten und nachzuwirken. Seine Sätze sind klug und dürfen das in dieser Inszenierung auch zeigen. Sie sind witzig und dürfen es allein sein. – Sätze wie dieser, den man nicht so schnell vergisst: „Wahrscheinlich gibt es ganze Milchstraßen ohne eine Spur von Hirn.“

Der Riss, den das Unwetter in die Erde zieht, ist zugleich ein Riss in der Zeit, diesem Konstrukt des Menschen. In diesem Riss wird plötzlich alles sichtbar: die Vergänglichkeit des Seins in der Ewigkeit des Wandels.

Magdalena Sporkmann

Darsteller:
Ulrich Matthes - Herr Geiser
Judith Hofmann - Elsbeth, seine verstorbene Frau
Franziska Machens - Corinne, seine abwesende Tochter
Leonhard Dering - Der Schwiegersohn aus Basel, der immer alles besser weiß
Wolfgang Menardi - Ein deutscher Sonnenforscher
Daniele Pintaudi - Armand Schulthess

Regie: Thom Luz
Musikalische Leitung: Mathias Weibel
Bühne: Wolfgang Menardi, Thom Luz
Kostüme: Sophie Leypold
Dramaturgie: David Heiligers
Licht: Matthias Vogel

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