Die Distanz aus der Nähe erleben

// Evros Walk Water von Daniel Wetzel/Rimini Protokoll //

Die Forderungen nach einer Beschränkung der Einwanderungszahlen werden immer lauter, werden zuletzt zu Drohungen. Diese Drohungen kommen aus dem Kern Europas, wo die Europäischen Werte vergessen scheinen, denn „alle diese Europäischen Werte, die auch mit der Würde des Menschen zu tun haben, werden an den Außengrenzen Europas ins Gegenteil verkehrt. (…) An der Grenze bis du zum Tode verurteilt“, weiß Daniel Wetzel von Rimini Protokoll. Er hat mit 5 Jungen im Alter von neun bis achtzehn Jahren, die zu Fuß und übers Wasser aus dem Irak, aus Afghanistan und Syrien nach Europa gekommen sind, in einer betreuten WG für Minderjährige in Athen das Stück Evros Walk Water erarbeitet. Uraufgeführt wurde es im Mai 2015 in Werdenberg zur Schlossmediale. Am 27. Januar 2016 war er damit zu Gast im Deutschen Theater Berlin.

Evros heißt der Fluss, der die Türkei und Griechenland voneinander trennt – eine Demarkationslinie der Festung Europa. An dieser Festung rüttelt Daniel Wetzel gewaltig. – Der Abschottung setzt er den Dialog entgegen. Es ist ein musikalischer Dialog, den Wetzel zwischen den 5 Jungen in Athen und dem Publikum in Deutschland eröffnet; unüberhörbar und zugleich ganz leise. Statt Musikern steht in Evros Walk Water das Publikum selbst auf der Bühne. Dirigenten gibt es dafür gleich mehrere, doch sie sind nicht anwesend: Die fünf Jungen in Athen dürfen wegen der Einreisebestimmungen nicht zur Vorstellung nach Deutschland kommen. Gleichwohl sind sie die ganze Zeit über präsent: Über Kopfhörer sagen sie dem Publikum, was es zu tun hat, damit „ihr Konzert“ aufgeführt wird. „Die Jungs fanden besonders lustig, und es war auch ihre Hauptmotivation dass ich zu ihnen gesagt hab: ,Ich kann kein Stück mit euch machen, mit dem ihr auf Tour geht, aber ihr könnt den Schweizern über Kopfhörer Kommandos geben.‘ Das fanden sie irgendwie cool. (…) Es ist eine Umkehrung in der Souveränität. (…) Die bekommen immer gesagt, wo’s langgeht und bei dem Stück können sie bestimmen, wo’s langgeht.“ Dieses Konzert ist ein Re-Enactment des Stücks Walk Water von John Cage. Dabei geht es um Wasser und man muss durch den Raum laufen, um das Stück zu spielen. Die „Instrumente“, die Cage 1960 für die Uraufführung dieses Werks benutzte, sind in Evros Walk Water durch Gegenstände ersetzt, die die Kinder mit ihrer Flucht verbinden. Im Zentrum steht ein Schlauchboot, voll Wasser gelaufen. Mit solch einem Boot sind sie alle angekommen.
Daniel Wetzel spricht nicht gern von „Flüchtlingen“. Die Flucht der Kinder, mit denen er Evros Walk Water erarbeitet hat, liegt teilweise schon Jahre zurück. Deswegen nennt er sie lieber „Angekommene“. Als solche leben die Jungen einen für ihr Alter mehr oder minder normalen Tagesablauf. Sie gehen zur Schule, zum Sport- oder Sprachkurs, tauschen sich über Haarstyling, Mädchen und Musik aus. In ihrer Athener Herberge dürfen sie wieder Kinder sein. Über ihre Flucht sprechen die Jungen untereinander nicht. Der Alltag und die Zukunft sind ein Rettungsanker, denn „jeder Gedanke zurück ist ein schmerzhafter,“ sagt Daniel Wetzel. „Sie sind wie ,displaced people‘. Sie sind aus ihren Lebenszusammenhängen gerissen und jeder wäre gerne dortgeblieben. Zugleich wollen sie Kinder sein.“ Für Wetzel war das Erstaunliche bei der ersten Begegnung mit den Jungen dann auch, dass diese an seinen Fragen nach ihrer Situation gar nicht interessiert waren. Sie hatten andere Themen. Worüber sollten sie mit so einem Erwachsenen reden? Entstanden ist ein Gespräch, in dem sich Alltägliches, Scherze, freundliche Sticheleien mit den Erinnerungen an einzelne Momente der Flucht dieser Kinder vermischen. Zwischen den „Sätzen“ des Konzerts gewähren die Kinder dem Publikum Einblick in ihre Geschichte. Die einzelnen Instrumente verbinden sie mit Episoden ihrer Flucht. Eisenketten erzählen von Gefängnis und Folter, ein Spielzeuggewehr von dem Zwang zur Gewalt. In den Klängen, die das Publikum mit diesen Gegenständen nach Anweisung der Jungen erzeugt, hallen die Geschichten der Kinder wieder. Doch die berührenden Erinnerungen an Verfolgung, Flucht, Angst und Verlust werden eher am Rande erzählt. Betroffenheit will Daniel Wetzel vermeiden. Stattdessen wünscht er sich Anteilnahme. Das gemeinsame Musizieren ist ein Weg dorthin. – Und um zusammen Musik zu machen, muss man zunächst einmal genau zuhören.

Das Zuhören, welches Wetzel in Evros Walk Water im Kleinen erweckt, wünscht er sich auch im Großen: „Das müssen wir in Europa lernen. (…) Egal, wie viele Leute wieder weggeschickt und rausgeekelt werden, es werden viele hier bleiben. Das heißt, unsere Narrative werden sich ändern. In Zukunft werden andere Narrative in unserer Gesellschaft eine Rolle spielen als bisher: Woher ist jemand gekommen und weshalb? Das Ziel bei dem Projekt war, dort anzufangen, zuzuhören.“

Das Zuhören ist das eine. Das andere, was Wetzel mit Evros Walk Water erreichen wollte, war „den Umstand, dass die Leute nicht dahin kommen, wo sie hinwollen, zum Beispiel, um uns heute Abend dieses Stück vorzuspielen, nutzbar zu machen.“ Nutzbar wird die Distanz, indem man sie erlebt; ein Erleben, welches das Theater ermöglichen kann, „sodass man emotional etwas erlebt, wovon man abstrakt schon oft gelesen und gehört hat, und das man jetzt mit einer Erfahrung verknüpft. In diesem Fall ist mir wichtig, dass die Erfahrung ist, dass man die Jungs nicht sehen konnte, (…) dass die Distanz manifest ist.“
In diesem Erleben der Distanz entsteht schließlich Nähe, eine Nähe, die hoffentlich Vorbote einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist, denn „aus der Sicht der Demografie-Debatte ist die Zuwanderung ein Lottogewinn. Aber diese Debatte wird gerade mit verkehrten Vorzeichen geführt.“ Wetzel wünscht sich für die Zukunft, dass die Politik endlich erkennt, welches Potential in den Angekommenen steckt: „Man merkt, sie sind voller Tatendrang und positiver Energie.“ Alle streben eine gute Ausbildung und einen tollen Job an. „Keiner will im Görlitzer Park Drogen dealen.“ Davon, dass Deutschland der richtige Ort ist, um diese positive Energie zu entfalten, ist Daniel Wetzel überzeugt: „Ich glaube, es gibt auf der Welt wenig Zonen, wo es möglich ist, den Wunsch von Leuten, sich ein Leben aufzubauen, besser zu kanalisieren als hier.“

Magdalena Sporkmann

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