// Auerhaus nach dem Roman von Bov Bjerg //
Schulabschluss, Leistungsdruck, die Frage, wie es danach weitergehen soll, die Vorstellungen der Eltern und die eigenen Sehnsüchte – oftmals grundverschieden –, das alles kann einem schon ganz schön Angst machen. Und den Moment, an dem man aus Mühle mal raus will, um sich klar darüber zu werden, welche Sehnsüchte so groß sind, dass man ihnen nachspüren möchte, hat wohl jeder schon erlebt. Um sich jedoch nicht ganz allein in dieses Abenteuer zu wagen, weiß man gern Gleichgesinnte an seiner Seite – das Modell WG ist bei vielen im Augenblick des Erwachsenwerdens deshalb sehr beliebt.
Eine nicht ganz gewöhnliche WG-Konstellation stellt Bov Bjerg in seinem Roman Auerhaus vor. Nora Schlocker und Birgit Lengers haben die Geschichte um diese sechs ganz besonderen Jugendlichen, die für kurze Zeit ihre idealistische Vorstellung von Gemeinschaft leben dürfen, nun für die Bühne des Deutschen Theaters Berlin adaptiert. Die bejubelte Uraufführung fand am 21. Mai 2017 statt.
Frieder (Christoph Franken) und Höppner (Marcel Kohler) sind Freunde. Sie gehen zusammen zur Schule und jetzt wohnen sie auch zusammen. Höppner möchte nämlich auf Frieder aufpassen, denn der hat versucht, sich umzubringen. Da der Psychiater ihm geraten hat, auf Abstand zu seinen Eltern zu gehen, ziehen er und Höppner kurzerhand in das leerstehende Haus von Frieders verstorbenem Großvater. Schnell gesellen sich weitere Jugendliche zu ihnen, die allesamt einen Zufluchtsort vor den Zumutungen der (erwachsenen) Welt suchen. Unter ihnen ist natürlich Vera (Maike Knirsch), Höppners Freundin, die die Vorzüge der Polygamie und des Diebstahls preist. Außerdem zieht Cäcilia (Lisa Hrdina) ein, da sie sich weigert, das Leben ihrer reichen Eltern zu erben. Dazu kommt die wunderschöne Pauline (Elena Schmidt), eine Brandstifterin, die Frieder in der Psychiatrie kennengelernt hat. Auch Harry (Božidar Kocevski) flüchtet sich ins Auerhaus (und den Drogenrausch), denn er fürchtet, sein Vater würde ihn totschlagen, erführe er, dass sein Sohn schwul ist. Während jeder Einzelne von ihnen mit der sturen Gleichheit bürgerlicher Lebensentwürfe inkompatibel ist, bilden sie zusammen eine vollkommene Gemeinschaft – „wie eine kleine Packung Eier“.
Die sechs – von den Behörden als „randständige Jugendliche“ eingestuft – taufen ihre Herberge Auerhaus – nach dem Madness-Song Our House – und der Name ist Programm: Hier regiert der Gemeinschaftssinn. Die Alleinkämpfer-Mentalität muss man auf der Türschwelle des Auerhauses zusammen mit den Schuhen abstreifen. Inmitten einer schwarzen Gummiödnis, deren vermeintlicher Ausgang eine stets verschlossene Tür ist, strahlt das Auerhaus – ein lichtes Trapez aus Holz und Sand – Wärme und Menschlichkeit aus (Bühne: Jessica Rockstroh). Mit den bloßen Füßen im Sand stehen die Jugendlichen für die Dauer ihres Zusammenlebens auf festem Boden, mitten im „richtigen Leben“: zusammen aufstehen, Essen klauen, kochen, Federball spielen, feiern und vor allem viel reden. Im Gespräch zeigt sich, was Lebenslust und Lebensangst in den Jugendlichen weckt. Angst macht ihnen vor allem das Erwachsensein, wie es ihnen in der zombiehaften Gestalt ihrer Eltern, Lehrer und Nachbarn begegnet (Kostüme: Caroline Rössle Harper): ein gebücktes Leben nach dem Schema „Birth, school, bummbumm, work, death“, das bedeutet Leistungsdruck, Militärpflicht (zumindest noch in den Achzigern, in denen Auerhaus angesiedelt ist), Maloche. Lust verspüren sie im Hier und Jetzt: in der Gemeinschaft, im ehrlichen Austausch, im Bewusstsein und der Akzeptanz dessen, was sie ausmacht – Schwächen wie Stärken.
Der Gründungsmythos der WG – Frieders Leben zu sichern – tritt bald in den Hintergrund, so prekär ist die Situation jedes Einzelnen, so existentiell die Nöte und Sorgen aller. Diese Eindringlichkeit erreicht die Inszenierung durch eine treffsichere Besetzung der so verschiedenen Rollen und damit auch durch die mitreißende Ensembleleistung. Christoph Franken in der Rolle des Frieder lässt dessen Lebensmüdigkeit umso erschreckender erscheinen, als er zeigt, dass dieser eigentlich jemand ist, der den Herausforderungen des Lebens auf intelligente, humorvolle und sehr soziale Art begegnet. Nur für ihn selbst reichen seine Bemühungen nicht aus. Schutz und Hilfe, das zeigt sich, braucht Frieder nicht. Doch er braucht einen Freund, der seine Einsamkeit zumindest zeitweise durchbricht, und dieser Freund ist Höppner. Marcel Kohler zeigt sehr einfühlsam die besonderen Qualitäten dieser Figur: Höppner ist weder der Klügste, noch der Mutigste. Ob es um seinen Musterungsbescheid oder die Gewissheit, dass Frieder jederzeit wieder einen Selbstmord versuchen könnte, geht: Oft handelt Höppner nach der Vogel-Strauß-Politik. Doch seine Menschenkenntnis und sein Interesse an dem, was andere antreibt, sind enorm. Durch seine Fragen lernt nicht nur er seine Mitmenschen besser kennen, sondern verhilft auch dem anderen zur Selbsterkenntnis. Nennenswert auch Elena Schmidts Darstellung, die den Trümmerhaufen, den das makellose Äußere der Brandstifterin Pauline verbirgt, erahnen lässt und dem Zorn gegen das, was sie so beschädigt hat, in energischer Zerstörungswut bis zur Erschöpfung Luft macht.
Was Auerhaus und dessen Inszenierung von Nora Schlocker auszeichnet, ist die berührende Darstellung dessen, welche Bedrohung die Zwänge des bürgerlichen Lebensentwurfs für die sich entwickelnden jugendlichen Seelen darstellen. Auerhaus gewährt den Befreiungsschlag zumindest in der Fiktion und legitimiert seine Gesellschaftskritik durch die heilende Wirkung von Gemeinschaftssinn und Freigeist auf die sechs Jugendlichen. Ein wichtiger Stoff in einer sehr guten Inszenierung, umso mehr als dass seit den 80ern, in denen Auerhaus spielt, Individualismus und Konformismus noch beherrschender geworden sind.
Magdalena Sporkmann