„Wiener Gemütlichkeit“ ohne Gemütlichkeit

// Geschichten aus dem Wienerwald von Ödön von Horváth //

Ein Berliner Regie-Debüt gab es am 22. Juni 2012 am Berliner Ensemble zu feiern: Regisseur Enrico Lübbe inszenierte Horváths Geschichten aus dem Wienerwald im Zusammenarbeit mit seinem Team Torsten Buß (Mitarbeit Regie), Hugo Gretler (Bühne) und Berrt Wrede (Musik). Die Süddeutsche Zeitung bescheinigte Lübbe „einen Faible für ganz und gar unfröhliche Stoffe“. So überrascht es nicht, dass er in seiner Inszenierung des Volksstücks Geschichten aus dem Wienerwald besonders die düsteren Seiten betont.

Wien, achter Gemeindebezirk: Marianne (Johanna Griebel) unterstützt ihren Vater (Roman Kaminski), den selbsternannten „Zauberkönig“ tatkräftig in dessen Spielwarenladen. Sie ist verlobt mit dem Metzger Oskar (Boris Jacoby). Allerdings ist er ihr widerlich und es braucht nur wenig, damit sie sich in einen anderen verliebt: Sie verlässt Oskar und schließt sich Alfred (Sabin Tambrea) an, von dem sie ein Kind bekommt. Leider will Alfred kein Familienvater sein und gibt den kleinen Leopold zu seiner Mutter (Claudia Burckhardt) und seiner Großmutter (Gudrun Ritter). Alfreds geringer „Verdienst“, den er aus Pferdewetten bezieht, reicht nicht zum Leben aus. Marianne ist gezwungen, in einem Nachtklub als Tänzerin (Amy Benkenstein, Judith Erhardt, Therese Korritter, Heidrun Schug und Judith Zimmermanns) ein mageres Gehalt zu erwirtschaften. Inzwischen haucht Alfreds Großmutter dem Baby das Leben aus, weil sie der Meinung ist, ihrem Enkelsohn so „den Rücken freihalten“ zu können. Alfred ist das Leben mit Marianne zu unbequem und er kehrt zu seiner ehemaligen Freundin Valerie (Angela Winkler) zurück, die ihn als Trafikantin ernähren kann. Diese hat sich in der Zwischenzeit mit dem jungen Nazi Erich (Ulrich Brandhoff) vergnügt, ist aber seine tumbe, kindische Art leid. Marianne lässt sich – am Ende ihrer Kräfte – doch noch von Oskar heiraten.

Regisseur Lübbe setzt alles daran, die Tragik von Mariannes Geschichte zu unterstreichen. Der Zuschauer trifft auf eine absolut nüchterne Inszenierung, die keinerlei Züge mehr von einem Volksstück hat. So ist beispielsweise der ursprünglich vorgesehene Wiener Dialekt gestrichen. Die Lieder werden kraftlos daher gewispert, eigentlich nur „zitiert“. Dazu ist das Bühnenbild so minimalistisch, dass es sich in drei Worten beschreiben lässt: eine hölzerne Donauwelle. Die Beleuchtung (Ulrich Eh) ist ähnlich reduziert: Entweder ist das Licht aus – dann wechselt die Szene gerade – oder das Licht ist an – dann wird die Szene gespielt. Sein Hang zum Spartanischen fällt dem Regisseur bei diesem Stück leider auf die Füße. Horváth nämlich ging es darum, die Kehrseite der (verlogenen, heuchlerischen) „Wiener Gemütlichkeit“ aufzuzeigen. Das Problem bei Lübbes Inszenierung ist, dass es von vorneherein gänzlich ungemütlich ist. Es gibt nichts, das die „Wiener Gemütlichkeit“ schafft, weder akustisch noch visuell.

Immerhin lässt sich an dieser Inszenierung hervorragend nachvollziehen, wie es Horváth durch die Gestaltung der Figuren gelingt, eine unheimliche Atmosphäre zu kreieren. Der einzig „normale“ Mensch ist Marianne. Johanna Griebel zeichnet ihre Entwicklung von der patzig-naiven Jugendlichen zur bestimmten, widerstandsfähigen Löwenmutter. Doch Marianne muss scheitern. Sie hat es schon als junges Mädchen nicht leicht mit ihrem narzisstischen, ein wenig in die Traumwelt seiner Selbstüberhebung abgeglittenen Vater – Kaminski überzeugt in dieser Rolle vollkommen – und gerät ausgerechnet an nicht minder selbstsüchtige Männer. Oskar will Marianne ehelichen und ihm ist völlig gleichgültig, ob sie ihn überhaupt mag oder nicht. Er ist überzeugt, sie entginge ihm nicht und behält schließlich Recht. Boris Jacoby gibt seinen Oskar als steife, introvertierte Memme. Alfred hingegen wird von Sabin Tambrea als Gegenspieler dargestellt: sexy und weltmännisch, mit einem Gewissen, aber ohne den Elan, sich lange anzuhören, was es ihm einflüstert. Angela Winkler lässt die Valerie neben ihm wie eine strenge mütterliche und zugleich sehr weiche, fast kindliche Figur wirken. Leider erinnert sie darin allmählich an die Kindfrau, die sie schon in Lulu und auch in der Dreigroschenoper spielte. Interessant ausformuliert ist hingegen die Mutter-Tochter- und die Großmutter-Enkelsohn-Beziehung in Alfreds Familie. Claudia Burckhadt gelingt der Bruch zwischen der Rolle einer Mutter, die ihren Kronsohn wie eine Glucke umsorgt und der Tochter-Rolle, in der sie immer wieder mit der Großmutter um die Familienhoheit ringen muss. Gudrun Ritter als Großmutter zeigt sich davon unbeeindruckt: Sie regelt Probleme gern mit einem eiskalt kalkulierten Deal oder gar einem Mord. Bleibt noch Ulrich Brandhoff. Er macht aus dem jungen Nazi Erich ein lächerliches Riesenbaby, das in einer gefährlich realen Fantasiewelt aus den Ideologien der Nationalsozialisten aufgeht. An diesen Konstellationen lassen sich eine Menge Konflikte ablesen: nicht zuletzt eine Ahnung vom aufkeimenden Nationalsozialismus (Uraufführung der Geschichten aus dem Wienerwald war 1931); dann natürlich die prekäre Lage der jungen Frau, Marianne. Sie ist von ihrem herrischen Patriarchen nur zum heiraten erzogen. Ihre mangelnde (Aus-)Bildung verwehrt ihr die Möglichkeit, sich und ihr Kind zu ernähren. Für Oskar ist sie nur ein Accessoire, das ihm zum vollkommenen Bürger-Glück verhelfen soll, und für Alfred ist sie nicht mehr als eine reizvolle Bettgenossin. Valerie ist zwar finanziell unabhängig, wird aber genauso zum Spielball der Männer: Sie verspricht sich von ihnen Jugend und wird missbraucht als Geldspenderin. Schließlich Alfreds Mutter und Großmutter, die nicht nur einen Generationen-Konflikt à là „Ich habe mehr Erfahrung als du, also habe ich Recht“ thematisieren, sondern auch einen Kampf (in dem sie über Leichen gehen) um die Gunst des angebeteten Enkels. Dieser nun ist so beliebt und begünstigt, dass er sich all seine Eskapaden (sozial und finanziell) leisten kann. Warum also sich mit den unangenehmen Verantwortungen quälen?

Im Übrigen ist es dem Regisseur nicht gelungen, die weiteren Figuren (Hierlinger Ferdinand – Michael Rothmann, Ida – Anna Graenzer, Havlitschek – Roman Kanonik, Rittmeister – Axel Werner, Tante / gnädige Frau – Krista Birkner, Baronin – Norbert Stöß und Mister – Veit Schubert) sinnstiftend einzubinden. Jenseits der engen Mariannen-Tragödie bröckelt alles weg. Auch die Entscheidung, die Szenen so abgehackt nebeneinander zu setzten befördert eine Flüchtigkeit, die sich rächt.

Die Inszenierung wirkt sehr kohärent und glatt, erhält deshalb auch viel Zustimmung vom Publikum. Doch schon bald merkt man: Sie war zu glatt, denn viele Details sind schnell vergessen. Der Theaterabend liegt wie ein durcheinander gewürfeltes Puzzle in der Erinnerung. Einzig Mariannes Schicksal hat sich eingebrannt. Doch damit ist das Stück zu einseitig inszeniert. Es ist ein Volksstück nur noch in dem Sinne, dass darin allgemeingültige Konflikte verhandelt werden. Das immerhin leistet es.

Magdalena Sporkmann

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