Coming of age-Drama anno 1890?

// Frühlings Erwachen von Frank Wedekind //

Wer glaubt, Jugendliche seien durch nichts mehr zu beeindrucken, weil das Fernsehen und die Computerspiele sie schon abgehärtet hätten, wurde in einer Aufführung von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen im Berliner Ensemble eines Besseren belehrt: Die Darstellung von Sex, Masturbation, Gewalt, Homosexualität und Nacktheit auf der Bühne entlockte den jugendlichen ZuschauerInnen verlegenes Lachen, aufgeregtes Johlen und Laute der Bestürzung.

Wedekind verfasste Frühlings Erwachen 1890 als ‚Eine Kindertragödie‘. Und wahrlich: Tragisch ist die Geschichte einiger 14-jähriger, die gegen die Verwirrung angesichts des eigenen Körpers und Geistes in der Pubertät ankämpfen. Zwei verlieren in diesem Kampf ihr Leben: Moritz Stiefel (Lukas Rüppel) bricht unter dem Leistungsdruck der Schule zusammen und resigniert angesichts seiner ungestillten Neugierde auf die ersten sexuellen Erfahrungen: Er erschießt sich. Die Lehrerkonferenz macht seinen Klassenkameraden Melchior Gabor (Sabin Tambrea) für den Selbstmord verantwortlich, da er Moritz heimlich mittels eines selbst angefertigten Heftchens sexuell aufgeklärt und – so die Lehrer – dessen Geist verwirrte hatte. Doch Melchior verliert nicht nur den Freund, sondern auch die Freundin Wendla Bergmann (Anna Graenzer), welche er in der heimlichen Liebesnacht auf dem Heuboden geschwängert hatte. Sie erliegt den „Abortionsmitteln der Mutter Schmidten“. Als Melchior die Freunde auf dem Friedhof betrauert, steigt Moritz‘ Leiche, den Kopf unter dem Arm, aus seinem Grab und bittet ihn um seine Gesellschaft im Jenseits. Melchior aber folgt einem maskierten Mann, dem Wedekind die Tragödie gewidmet hat: dem Leben.

Nicht nur dem Leben hat er es gewidmet, sondern auch der Jugend, der Phase, in der das Leben seine Richtung erst noch bekommt, in der der Jugendliche sich in eine Richtung vorkämpft und dabei so manchen Umweg geht. Die Verteilung der Sympathien ist in diesem Stück fast ausnahmslos klar: die Jugendlichen sind die Guten, die Erwachsenen die Bösen; eine Figur ausgenommen: Melchiors Mutter (Lore Stefanek), die die Rolle der Vermittlerin einnimmt und die Jugendlichen vor den „entseelten Bürokraten“ der „Erziehungsanstalt“ bewahren möchte: Diese sind als reine Karikaturen dargestellt: In steifen Anzügen, mit dicken Bäuchen und bitterbösen Mienen kommen sie daher, reden verschroben durcheinander und drehen sich mit ihrer Entscheidungsträgheit und Floskelei im Kreise. Ihre Namen sprechen für sich: Affenschmalz (Roman Kanonik), Knüppeldick (Georgios Tsivanoglou) und Knochenbruch (Martin Schneider). Ganz entgegen den Jugendlichen, deren Entscheidungsfreude und Tatendrang Frau Gabor begeistert verteidigt. Dabei hat Wedekind den Freunden die unterschiedlichsten Temperamente verliehen: Melchior ist der feingeistige Philosoph, Moritz der schüchterne Träumer, Wendla die fortschrittliche Freiheitsliebende, Martha Bessel (Mara Widmann) ein verängstigter Duckmäuser, Ilse, ein abenteuerlustiger Hans-Dampf-in-allen-Gassen. Sie allein, als Schulabbrecherin, darf ein Sünd-rotes Kleid (Kostüme: Wicke Naujoks) tragen. Alle anderen stecken bieder und trist in Schwarz und Weiß. – Einzig die Länge der Kleidung unterscheidet Jung und Alt. Ohnehin scheinen die Erwachsenen ihre Sprösslinge nicht als Kinder, sondern als kleine Erwachsene zu denken. Begegnet ihnen dann statt ihrem Spiegelbild durch ihre Kinder Ungestüm und Eigensinn, Wissensdrang und Rebellion, reagieren sie mit Unverständnis, Zurück- und Zurechtweisung, gar mit Prügel.

Freilich besitzt die Darstellung solcher Diskrepanz und Unterdrückung der Jugendlichen heute in Deutschland eine weitaus geringere Aktualität als seinerzeit. Aber eine Beklemmung, auch eine Betroffenheit löste die Geschichte allemal noch aus. Hingegen vermochte das überspitzte und gleichzeitig liebevolle Portrait der pubertären Jugendlichen und der Erwachsenenwelt, in die sie hineinwachsen sollen, zu begeistern. Regisseur Claus Peymann tat gut daran, auf die Sprachfülle und den Wortwitz Wedekinds zu setzen und ließ neben den tragischen Elementen auch die Komik deutlich hervortreten: Neunzehn Szenen wirkten wie Schnappschüsse aus dem Leben der Jugendlichen und nicht selten trugen diese höchst groteske Züge: So onanierte beispielsweise ein junger Mann noch schnell ein letztes Mal beim Anblick einer Kunstpostkarte, die einen weiblichen Akt zeigte, um sie danach in der Toilette herunterzuspülen, damit die junge Dame ihm endlich aus dem Kopf gehe. Auch die Experimentierfreude (zum Beispiel im Hinblick auf die eigene Sexualität) und die Zuversicht, sowie die Neugierde der Jugendlichen auf ihre Zukunft wirkte erfrischend. Die Bilder, die Wedekind angesichts dieser Begeisterungsfähigkeit entstehen lässt sind originell und charmant: „Denken wir uns die Zukunft wie Dickmilch mit Zucker und Zimt!“ Sie hallen in einem großartigen Bühnenbild (Achim Freyer) wieder: Wände als riesige schwarz-weiße Drehtüren, die wie Windräder im Frühlingswind liefen und die Jugendlichen herumwirbelten. Gegenlicht, das für Momente Bilder entwarf, die an Scherenschnitte aus dem Biedermeier erinnerten und die märchenhafte Seite der Jugend betonten. Wunderbar war auch der Einfall, die Schulmeister in Strümpfen auf die Bühne watscheln zu lassen, wo ein jeder sein Podest erklomm: Gasbeton-Blöcke mit aufmontierten Latschen: Die Schwerfälligkeit der starren Geister fand so bildhaften Ausdruck. Wie Klumpen aus hart gewordenen Grundsätzen und überkommenen Moralvorstellungen erschwerten ihnen die Plateaus das gehen und buchstäblich den Fortschritt! Die Schlussszene auf dem Friedhof mutete schließlich fantastisch an: Die Wände waren umgestürzt, die Trümmer gekrönt von Grabmalen, Kreuzen: ein starkes Symbol für die kindliche Unbefangenheit und Leichtigkeit, denen durch den tragischen Verlust der Kameraden jäher Abbruch getan wurde. Allein, Melchior besann sich auf sein Vertrauen in die Welt und sich selbst, auf die Grundsätze, die seine liberale Mutter ihm vermittelt hatte und nach denen zu leben ihm vielversprechend schien. Wie ein Motto für seinen Weg stand Wendlas Grabspruch: „Selig sind, die reinen Herzens sind.“ Was einst auf die Moral der Schulmeister gemünzt, klang aus seinem Mund wie eine radikale Aussage und Bekenntnis zu den eigenen, kritisch durchdachten Haltungen.

Peymann verleugnete weder den Moralisten in Wedekind, noch den Satiriker. Die Tiefe bot die Geschichte, die Heiterkeit schuf die Inszenierung. Durch Spielfreude und (jugendlichen) Enthusiasmus rissen die SchauspielerInnen das Publikum mit: Es mochte zunächst ungewohnt sein, solch lebhafte Reaktionen aus den Zuschauerreihen zu vernehmen, doch im Grunde war es doch höchst erfreulich, so zahlreiche junge Zuschauer derart begeistert und interessiert zu erleben. Besonders eifrig und zu Recht wurden die Hauptdarsteller bejubelt: Verschmitzt grinst man über die Jungenhaftigkeit Sabin Tambreas: Der Übermut steht ihm hervorragend! Gleichzeitig ist aus anderen Inszenierungen bekannt und wurde in dieser bestätigt, dass er die Ernsthaftigkeit und Verzweiflung genauso überzeugend mit sicheren Gesten darzustellen vermag. Ebenfalls bezaubernd war Anna Graenzers Darbietung: Ihr Körper schien sich noch gut an den kindlichen Bewegungsdrang zu erinnern. Auch fand sie zu einem sprachlichen Ausdruck, der der jugendlichen Ausgelassenheit ganz nahe kam. Lukas Rüppel schließlich ist es gelungen den Bogen von der unglücklichen Zerrissenheit bis hin zum tragisch-komischen Zombie zu spannen. Kopf ab! – Ehhhm … Hut ab!

In einer Zeit, in der jeder so lange wie möglich jugendlich bleiben möchte, die eigene Mutter zur besten Freundin geworden ist und die Pädagogik so kritisch beobachtet wird wie nie, mangelt es der Problematik des Frühlings Erwachens – es wurde schon angedeutet – an Aktualität. Claus Peymann beweist mit seiner Inszenierung allerdings, dass ein Stück auch dann relevant ist, wenn sein zentraler Konflikt nicht mehr aktuell ist. Peymanns Inszenierung ist ein Kunstwerk und die Geschichte funktioniert in diesem Rahmen sehr gut. Vielmehr: Dankbar nimmt man ein Stück entgegen, das nicht auf modern und aktuell getrimmt worden ist.

Magdalena Sporkmann

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