In der Elbe treiben Leichen

// Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert //

Als Gastspiel des Hamburger Thalia Theaters war Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür in einer Inszenierung von Luk Perceval im März 2012 an den Münchner Kammerspielen zu sehen.

Das Drama schrieb Borchert ein Jahr nach Ende des zweiten Weltkrieges innerhalb von nur acht Tagen. Er verarbeitete darin die Erfahrungen der Kriegsheimkehrer, all der Männer, die gekämpft hatten, eventuell in Gefangenschaft und verletzt waren, und nun mit der grausamen Erinnerung an Tod und Zerstörung zu ihren Eltern, Frauen, Kindern zurückkehrten. Viele fanden nicht, worauf sie hofften: Die treue Frau, die Eltern am Leben, das eigene Hab und Gut. So auch Soldat Beckmann (Felix Knopp), der Protagonist des Dramas. Er muss einsehen, dass sein Platz in seiner einstigen Heimat Hamburg nicht länger besteht: Ein anderer schläft neben seiner Frau, ein anderer, der seine Kleidung trägt; die Eltern tot; das Elternhaus verkauft. Gemartert von den Schreckensbildern des Krieges, streift Beckmann schlaflos durch die Stadt. Dem Oberst möchte er die Verantwortung, die dieser ihm einst übertrug, zurückgeben, dem Zirkusdirektor ein Engagement als Sänger abringen und bei dem Marktweib an der Elbe (alle gespielt von Barbara Nüsse) sucht er sein Grab.

Diese Inszenierung ist ungewöhnlich, zum einen wegen des kargen Bühnenbilds (Katrin Brack), zum anderen aufgrund einer etwas ungewöhnlichen Besetzung. Seit 1993 finden am Thalia Theater Hamburg sogennante Eisenhans-Theaterprojekte statt. In Zusammenarbeit mit der Initiative Menschen mit Behinderung, werden bei Eisenhans besondere Menschen auf die Bühne gebracht. So auch in Draußen vor der Tür. Hier sind sechs behinderte Schauspieler (Nora Fiedler, Josefine Großkinsky, Nikolas Gerlach, Mila-Zoe Meier, Joana Orth, Paul Kai Schröder, Daniel Tietjen und Swatina Wutha) in der Rolle von Engeln, Eisenhasen und Traumtänzern in Rüschenkleidchen (Kostüme: Anja Sohre) zu sehen, die die Düsternis des Soldaten Beckmann durchdringen. Ihr Reigen erinnert an den Totentanz derer, die Beckmann „auf dem Gewissen“ hat. Sie jagen ihn, marschieren, schleichen oder kriechen durch Beckmanns Realität, halten seine Erinnerungen lebendig und treiben ihn damit sukzessive in die Verzweiflung. Die Entscheidung, Behinderte in diesem Stück einzusetzen, beleuchtet Beckmanns Problem aus einem zusätzlichen Winkel: Ein behinderter Mensch hat es schwer, in unserer Leistungsgesellschaft einen Platz zu finden. Der kriegstraumatisierte Soldat hat ein ähnliches Problem: Seine geistige Verfassung entrückt ihn unserer Gesellschaft. Er muss einen neuen Platz für sich suchen, denn den des gesunden, psychisch unversehrten Mannes, der er einmal gewesen ist, kann er nicht mehr einnehmen. Er hat um den Schutz seines Volkes gekämpft, dieser Kampf aber entlässt ihn als schwaches Glied in die Gesellschaft, ins „normale Leben“, in die „Friedenszeiten“.

Insofern geht die Inszenierung über das Erzählen der reinen Geschichte, des Dilemmas, in welchem sich ihr Protagonist befindet, hinaus und ermöglicht dem Zuschauer einen abstrakteren Blick, auch den Bezug zur Gegenwart, in der zahllose junge Männer aus den modernen Kriegen nicht minder versehrt zurückkehren als Beckmann. Verstärkt wird diese Perspektive durch das Bühnenbild, welches lediglich aus einer Drehbühne und einem riesigen Spiegel besteht. Der Spiegel steht am hinteren Bühnenrand und ist so gekippt, dass der Zuschauer eine Draufsicht auf die Schauspieler erlangt. Man sieht also das Spiel nicht nur von vorn, sondern auch von oben. Diese außergewöhnliche und kaleidoskopartige Sicht ermöglicht eine distanzierte Betrachtung des Geschehens. Die Darsteller wirken aus dieser Perspektive wie Spielfiguren im Hamsterrad und tatsächlich werden die Identitäten aufgehoben: Soldat Beckmann erinnert seinen Vornamen nicht mehr, seine Heimat ist ein fremder Ort, ein Niemandsland geworden, alle Figuren sind austauschbar (Mehrfachbesetzung Barbara Nüsse und Peter Maertens) in ihrer Funktion, eine hässliche, menschenfeindliche Zivilisation zu repräsentieren und namenlose Gespenster bevölkern seinen Gedankenkosmos. Das Licht strahlt die Darsteller von vorn an, sodass sie in der Draufsicht eher ihr eigener Schatten als tatsächlich eine menschliche Gestalt sind.

Hauptdarsteller Felix Knopp hat Beckmann nicht nur aufreibend und sich selbst verbrauchend gespielt, sondern vertonte (Musikregie: Paul Lemp, Stefan Wulff / Musik: My Darkest Star) mit Musikerkollegen Marco Smedtje (Gitarre), Dirk Ritz (Bass) und Dog Kessler (Drums) auch die Gedanken und Gefühle des Heimkehrers Beckmann und fügte so der Inszenierung rockige Episoden ein, die in Lautstärke, Temperament und schrägem Gesang (Felix Knopp) die Verzweiflung und Einsamkeit, den Schrecken und das Leid Beckmanns treffend in moderne (musikalische) Sprache übersetzen.

Mit seinen Songs bittet Beckmann den Zirkusdirektor um ein Engagement, aber dieser weist ihn als Anfänger und verkommen zurück – er solle äußerlich erst mal wieder Mensch werden.

Beckmann zerbricht an dem krassen Widerspruch von Innen und Außen. In ihm wird der Krieg nie ruhen und draußen, da wollen sie, dass man den Frieden genießt und sich nach der neuesten Mode kleidet. Draußen, da ist der Aufbau, da ist der frohe Blick in die Zukunft. Innen, da tobt die Zerstörung. Diesen Bruch hat Luk Perceval sehr deutlich auf der Bühne nachvollzogen. Sein Beckmann kennt nur einen Ausweg: eine Bewusstlosigkeit durch Tod; endlich „pennen“. Und so ist der Blick über den Spiegel auch ein Blick in das dunkle Elbwasser, in dem Leichen treiben.