Da fehlt das Fleisch in der Suppe!
// Vassa Shelesnova von Maxim Gorki //
Kurz nach den Münchner Kammerspielen zeigt auch das Berliner Ensemble Maxim Gorkis Vassa Shelesnova. Die Inszenierung von Manfred Karge hatte dort am 23. März 2012 Premiere und man muss leider sagen, dass die Münchner den Berlinern in diesem Falle eindeutig den Rang ablaufen.
Im Gegensatz zu München, hat man sich in Berlin für die zweite Version des Stückes entschieden, die die politischere sein soll. Tatsächlich unterscheiden sich die beiden Fassungen sehr voneinander. Die Protagonistin trägt jedoch immer die gleichen charakteristischen Züge: Vassa Shelesnova (Swetlana Schönfeld) ist Besitzerin einer Schifffahrtsgesellschaft. Mit strenger Hand und kühlem Kopf regiert sie aber nicht nur dieses Unternehmen, sondern ist auch das unangefochtene Familienoberhaupt. Jedoch vermögen weder ihr Ehemann Sergej (Dieter Montag), noch ihr Bruder Prochor (Roman Kaminski) oder ihre drei Kinder Natalia (Johanna Griebel), Ludmila (Katharina Susewind) und Fjodor ihren hohen Ansprüchen zu genügen. Zugegebenermaßen hat es Vassa nicht leicht mit ihrem sozialen Umfeld: Sergej ist dem Glücksspiel und Prochor dem Alkohol verfallen. Natalia, ist widerspenstig und auch sie „mag es, betrunken zu sein“. Dagegen ist ihre Schwester Ludmila geradezu infantil und hängt am Rockzipfel der Mutter. Sohn Fjodor ist kränklich und lebt zudem im europäischen Ausland. Die Hausangestellten (Claudia Burckhardt als Sekretärin Anna, Michael Kinkel als Chauffeur Pjatorkin und Laura Mitzkus in einer Doppelrolle als Dienstmädchen Lisa und Polja) hintergehen ihre Herrin und lassen sich von den Herren schwängern. Untermieter Melnikov (Felix Tittel) ist stiller Beobachter des Shelesnovschen „Wahnsinns“. Doch als wäre der familiäre Zusammenhalt nicht ohnehin schon gefährdet, gibt es auch noch Auseinandersetzungen zwischen Vassa und ihrer Schwiegertochter Rachel (Marina Senckel), der Ehefrau Fjodors, um Vassas Enkel und Rachels Sohn Kolja (Arsseni Bultmann / Arda Dalci). Vassa möchte dem Jungen das unstete Leben seiner Mutter, die ihn zur Ausbildung nach Europa bringen möchte, ersparen und verschließt ihn in ihrer Obhut. Als Sergej angeklagt wird, ein Kinderschänder zu sein, schwant Vassa, dass sie die Kontrolle verliert …
An der schauspielerischen Leistung aller Darsteller ist überhaupt nichts auszusetzen. Im Gegenteil! Frau Schönfeld spielt ihre Rolle mit enormer Präzision. Sie wird der Vielschichtigkeit der Figur absolut gerecht und gibt die Disziplin und Härte Vassas genauso überzeugend wie Momente des Zweifelns und der Schwäche, der „Menschlichkeit“, wie Ludmila es nennt. Die Energie Vassas ist bis in die letzte Zuschauerreihe zu spüren. Außerdem schenkt Swetlana Schönfeld dem Text genauso viel Aufmerksamkeit wie dem Spiel und lässt die Neuübersetzung Manfred Karges strahlen. Marina Senckel, als ihre Gegenspielerin Rachel, spiegelt die Strenge Vassas sehr deutlich und man glaubt Vassa, wenn sie sagt: „Ich habe dich mir immer zur Tochter gewünscht“, weil sie einander so ähnlich sind. Doch an Stolz übertrifft Rachel die Schwiegermutter noch. Frau Senckel verleiht ihrer Figur gekonnt die Souveränität der fortschrittlichen Wahl-Europäerin. Sehr erheiternd ist die Darstellung Roman Kaminskis als Prochor. Man könnte glauben, er habe für diese Rolle gar nicht spielen müssen, es liegt jedoch fern, ihm dies zu unterstellen! Kurz aber eindrucksvoll ist Dieter Montags Auftritt als Sergej, der den verschlagenen Tagedieb und Saufkumpanen seines Schwagers mit sichtlicher Freude spielt. Johanna Griebel und Katharina Susewind gestalten die Unterschiedlichkeit ihrer Figuren und das feindliche Geschwisterverhältnis sehr aufmerksam.
Man kann sagen: Die übrigen Elemente der Inszenierung ringen nicht gerade mit den Schauspielern um die Aufmerksamkeit des Publikums. Mit anderen Worten: Die Inszenierung ist langweilig. Es scheint, als habe Manfred Karge keine Entscheidung treffen können. Der Realismus, dem Gorki zuzuordnen ist, wird angedeutet in einem recht biederen Bühnenbild (ebenfalls Manfred Karge) mit ein paar antiken Möbelstücken und zwei Sequenzen, in denen Herr Kaminski sich an ein echtes (!!) Klavier schwingt, aber das war’s auch schon. Das Bühnenbild bleibt Dekoration und reiner Spielraum, sagt aber selbst überhaupt nichts aus. Die Kostüme (Jessica Karge) sind semi-altmodisch und brav. Alles wirkt lieblos und grau und unentschlossen.
Es ist Gorkis Textvorlage zu verdanken, dass dieser Theaterabend nicht zum Einschlafen wurde. Manfred Karge hat ganz biederes, gesetztes Theater gemacht, ohne dabei wenigstens die theatralischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Dieser anämischen Inszenierung fehlt Leidenschaft und eine Positionierung, ein Rückgrat. Warum wählt man – und diese Frage geht nochmals (sie wurde bereits in der Einführung im BE gestellt) an den Dramaturgen Hermann Wündrich – die politischere Fassung, wenn man dann offenbar überhaupt keine Haltung annehmen möchte? Vassa Shelesnova ist ein politisches Stück – egal in welcher Fassung –, weil es den Zerfall einer feudalistischen Gesellschaft im Zuge der russischen Revolution symbolisiert. Es geht also, basal gesagt, um soziale Ungleichheit und Unterdrückung. Und gerade weil es diese Probleme auch heute noch gibt – in anderem Gewand zwar, aber dennoch! –, wäre es wichtig gewesen, diese politische bzw. gesellschaftskritische Dimension stärker herauszustreichen. Genug Anlass dazu gibt der Besuch Rachels, die einst von den Shelesnovas als eine von ihnen wahrgenommen wurde. Nun aber ist sie irgendwie „unheimlich“ und zwar im besten freudschen Sinne. Sie macht sichtbar und ihr erzählt man, was eigentlich nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll: der moralische Zerfall der Familie Shelesnova. Rachel appelliert an die Vernunft und repräsentiert den Wandel: Sie sucht den Fortschritt in Europa und flieht aus den überholten und starren Verhältnissen der russischen Bourgeoisie.
Magdalena Sporkmann